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Besprechung vom 20.10.2021
Das Gewicht verschiebt sich nach Ostasien
Adam Tooze über die globalen wirtschaftlichen und politischen Folgen der Pandemie
Während sich die meisten Studien bislang mit den mentalen und psychologischen Folgen der Pandemie und den zu ihrer Eindämmung ergriffenen Maßnahmen beschäftigen, mit Vereinsamung und Depression, Lernrückständen und wachsender Aggressivität in der Gesellschaft, hat sich Adam Tooze in seiner großen Arbeit zu Pandemie und Lockdown auf die weltwirtschaftlichen und weltpolitischen Folgen konzentriert. Sein Fazit: China ist der eindeutige Gewinner der von Corona ausgelösten Krise, während die Vereinigten Staaten und die EU, also der alte "Westen", den es in der Darstellung von Tooze so freilich nicht mehr gibt, einer der Verlierer ist.
Die Pandemie ist zwar in China ausgebrochen, aber es ist dem Regime - zugegeben, mit rabiaten Maßnahmen - gelungen, sie schnell unter Kontrolle zu bringen, anschließend als einer der Ersten mit der Wiederankurbelung der Wirtschaft zu beginnen und als einziges Land für das Jahr 2020 ein deutliches Wirtschaftswachstum auszuweisen. Vergleichbares ist dem Westen nicht gelungen: Die Erholung der Wirtschaft hat hier noch nicht das Niveau von 2019 erreicht, eine gewaltige Schuldenlast ist aufgetürmt, und die Risse in der alten transatlantischen Koalition sind im Verlauf der Pandemie größer und tiefer geworden. Immerhin konstatiert Tooze, dass Deutschland im europäischen Vergleich relativ gut durch die große Krise gekommen ist.
Es ist eine aus wirtschaftlichen Daten und politischem Handeln beziehungsweise Nichthandeln, Sorgen und Ängsten der Menschen, entscheidungsfreudigen wie entschlussschwachen Eliten, Rückkopplungseffekten und unbeabsichtigten Folgen gewobene dichte Erzählung, in der Tooze die Vorgänge der zurückliegenden eineinhalb Jahre "einzufangen" sucht - einzufangen insofern, als es letzten Endes eine starke Vorstellung von Kausalitäten ist, die seiner Darstellung zugrunde liegt. Dadurch gelingt es ihm, dem verwirrenden Nebeneinander von pandemischen Daten, dem Auf und Ab an den Börsen und dem Hin und Her, Vor und Zurück der politischen Entscheidungsträger zu entkommen und zu zeigen, wie eng die Entwicklung der Infektions- und Todeszahlen, die diversen Versuche der Politik, auf die Abflachung der entsprechenden Kurven Einfluss zu bekommen, die Aussicht auf die Verfügbarkeit von Impfstoffen und schließlich die "Reaktion der Märkte" in der heißen Phase der Pandemie zusammenhingen.
So entsteht ein Bild, das zwischen einer klassischen Tragödie und einer breit angelegten Erzählung von Aufstieg und Niedergang großer Mächte oszilliert. Tragisch ist das Handeln derer, die, um Unheil zu verhindern, das Unglück erst unabwendbar machen, während in der Erzählung von Aufstieg und Niedergang den Akteuren nur die Rolle des Beschleunigers oder Aufhalters zukommt. Grundlegend ändern können sie nichts. Tooze lässt offen, welche von beiden Möglichkeiten ihm als die wahrscheinlichere erscheint. Und schließlich gibt es in der Erzählung auch noch die Rolle des Tölpels, der nichts begriffen hat und glaubt, durch eitle Selbstdarstellung Herr des Geschehens werden zu können. Ein ums andere Mal taucht im Buch Donald Trump in dieser Rolle auf.
Drei Ergebnisse hebt Tooze mit Blick auf die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie hervor: In ihrer überwiegenden Mehrheit haben die staatlichen Maßnahmen die Wohlhabenden in der Gesellschaft begünstigt und die wirklich Armen kaum oder gar nicht erreicht. Die gesellschaftliche Kluft zwischen Arm und Reich ist im Verlauf der Pandemie größer geworden - in den reichen Ländern des Nordens, in den Schwellenländern, in den Ländern am unteren Ende der Entwicklungsskala, aber auch in China.
Diese Beobachtung ist keineswegs trivial, denn zumeist führen große Krisen und nicht zuletzt Kriege zu einer Abflachung des Wohlstandsgefälles. Zweitens ist es zu einer unübersehbaren Verschiebung der wirtschaftlichen Gewichte nach Ostasien gekommen, insofern nicht nur China, sondern auch Südkorea und Japan die Krise relativ erfolgreich gemeistert haben. Dass die Weltwirtschaft nicht aus der Balance geraten oder gar zusammengebrochen ist, ist Ostasien - und nicht dem Westen - zu verdanken. Die Pandemie hat deutlich gemacht, wie stark die Verlagerung der weltwirtschaftlichen Zentren inzwischen fortgeschritten ist. Und schließlich ist das von den Vereinten Nationen betriebene Projekt der Armutsbekämpfung im globalen Süden um mindestens zwei Jahrzehnte zurückgeworfen worden.
Dass im Verlauf des Lockdowns eine Reihe von wirtschaftswissenschaftlichen Dogmen, so Tooze, außer Kraft gesetzt, wenn nicht widerlegt worden ist, mag für die einschlägigen Spezialisten von Bedeutung sein; dass die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie weniger auf die staatlichen Eingriffe, wie etwa den Lockdown, sondern auf das eigenständige Reagieren vieler Menschen auf die gesundheitlichen Risiken eines "Weiter so" zurückzuführen waren, ist dagegen von grundsätzlicher Relevanz, widerlegt es doch die Behauptung, die wirtschaftliche Krise sei im Wesentlichen eine Folge der staatlichen Bemühungen um die Eindämmung der Pandemie gewesen. Tooze zeigt in einem umfassend angelegten Vergleich, dass diese Behauptung falsch ist.
Zu den langfristigen Folgen der Pandemie gehören aber auch die Schlussfolgerungen, die von Politik, Administration sowie Wirtschaft aus einer kritischen Evaluation ihres Agierens gezogen werden. Tooze geht nämlich davon aus, dass die Corona-Pandemie kein Ereignis war beziehungsweise immer noch ist, das sich so schnell nicht wiederholen wird, wie deren Bezeichnung als "Jahrhundertpandemie" suggeriert, sondern dass es sich um ein weiteres Glied in der Kette aufeinanderfolgender Pandemien im Zeitalter des Anthropozäns handelt. Ist das so, dann hat jetzt schon der Wettbewerb um das klügste und effizienteste Lernen aus den Fehlern und Misserfolgen im Umgang mit der Pandemie begonnen. Dabei kann man in Deutschland von Südkorea einiges lernen. Die Studie von Adam Tooze gehört zu den wenigen Büchern, die bei diesem Lernen anleiten können. HERFRIED MÜNKLER.
Adam Tooze: "Welt im Lockdown". Die globale Krise und ihre Folgen.
Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn. C. H. Beck Verlag, München 2021. 408 S., geb.
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