Erste komplette Neuübersetzung seit 100 Jahren
Mit seinem am 24. November 1859 erstmals publizierten Werk »Der Ursprung der Arten« leitet Charles Darwin eine entscheidende Wende in der modernen Biologie ein. Diese brillante Neuübersetzung würdigt einen der bedeutendsten Naturwissenschaftler, dessen bahnbrechende Forschung unsere Sicht auf die Welt revolutioniert hat.
Als Charles Darwin 1836 von seiner abenteuerlichen Weltreise mit der HMS Beagle zurückkehrt, glaubt er nicht länger an die Schöpfungslehre und die Unveränderlichkeit der Arten. Seine unterwegs gesammelten Beobachtungen und Erfahrungen lassen nur einen Schluss zu: Die Natur hat sich allmählich entwickelt; alle Lebewesen haben einen gemeinsamen Ursprung. Fortan arbeitet Darwin akribisch daran, seine Erkenntnisse in eine Theorie zu überführen. Als seine Überlegungen schließlich im Jahr 1859 unter dem Titel »On the Origin of Species by Means of Natural Selection« zum ersten Mal erscheinen, ist das Buch sogleich vergriffen. Weit über die Wissenschaftskreise hinaus erfährt Darwin im Laufe der Zeit große Anerkennung für seine Studien zur Veränderlichkeit der Arten und der natürlichen Selektion, die ihn zum Begründer der Evolutionstheorie machen. Gleichzeitig stößt er immer wieder auf erbitterten Widerstand, gegen den er sich zur Wehr setzen muss. Die letzte von Darwin bearbeitete, sechste Auflage erschien im Jahr 1872 und liegt dieser Neuübersetzung zugrunde. Sie bietet dem Leser die Möglichkeit, Darwins epochales Werk, das bis heute Bestand hat, in seiner bestechenden Klarheit wiederzuentdecken.
Besprechung vom 16.01.2019
Der Zufall brauchte ein Mäntelchen
Charles Darwin machte es seinen Übersetzern nicht einfach: Jetzt liegt sein "Ursprung der Arten" in einer neuen deutschen Übertragung vor - ein Gewinn.
Charles Darwins "Origin of Species" nimmt unter den Gründungsschriften moderner Naturwissenschaften eine Sonderstellung ein: Das 1859 erschienene Buch ist in der Evolutionsbiologie nicht nur Referenztext und Ideenspender geblieben, sondern wird auch immer noch zum Zweck der Rechtfertigung von Forschungsansätzen angeführt. Die erste Übersetzung von Darwins Werk ins Deutsche besorgte Heinrich Georg Bronn (1860), Julius Victor Carus adaptierte und verbesserte Bronns - auch von Darwin nicht geliebte - Übersetzung (1876), und Carl W. Neumann lieferte 1916 die bislang jüngste deutsche Version. Darüber hinaus erschienen eine Reihe Übersetzungen von David Haek (1894), Richard Böhme (1895) oder Paul Seliger (1900), die jedoch keine weite und dauerhafte Verbreitung fanden.
Nun legt Eike Schönfeld, der bisher als Übersetzer literarischer Werke hervorgetreten ist, eine Neuübersetzung von Darwins Schlüsselwerk vor. Ohne Vorbehalte lässt sich sagen, dass sie hervorragend gelungen ist. Sie wird Darwins Sprache und Duktus gerecht und kann mit ihrer zurückhaltenden, auch terminologischen Modernisierung dem Buch vielleicht neue Leserkreise erschließen.
Darwin schrieb für eine Leserschaft, welche mit der Sprache der natürlichen Theologie vertraut war, wenn es um tiefliegende Erklärungen der Natur ging. "Entwurf" (design) und "Schöpfung" (creation) waren da die Schlüsselbegriffe, mit denen das Wirken Gottes in der Natur gefasst wurde. Darwin musste daher eine eigene Begrifflichkeit finden, um seine Theorie, die auf Zufall, Überproduktion von Nachkommen und dem Aussieben vorteilhafter Varianten beruhte, verständlich zu machen. Sein Ringen um eine Sprache, die dem Neuen gerecht wird, ohne das Alte völlig aufzugeben und damit Leser abzustoßen, führte ihn auf eine Begrifflichkeit, die Spuren der Tradition der natürlichen Theologie bewahrte, aber dabei flexibel genug war, seine Vorstellungen zu transportieren.
Im deutschen Sprachraum wurde Darwins Werk dagegen nicht vor dem Hintergrund der natürlichen Theologie gelesen, sondern im Kontext einer biologischen Tradition, die von einer idealistischen vergleichenden Morphologie geprägt war, selbst wenn diese Tradition Mitte des neunzehnten Jahrhunderts schon unter Beschuss kam. Mitverantwortlich dafür war Heinrich Georg Bronn, Darwins erster Übersetzer ins Deutsche.
Bronn warf wie Darwin einen historischen Blick auf das Leben und suchte nach Alternativen zu idealisierten Archetypen. Wie Darwin glaubte Bronn, dass nicht nur Paläontologie und vergleichende Morphologie den Schlüssel zum Verständnis des historischen Wandels des Lebens lieferten, sondern auch die Untersuchung von Variation, geographischer Verbreitung und der Wechselwirkung zwischen Organismen und ihrer Umwelt.
Und auch Bronn arbeitete mit einer Begrifflichkeit - die der idealistischen Morphologie -, die institutionell noch tief verwurzelt war, doch seine (und Darwins) Theorie nicht angemessen darstellen konnte. Diese Ausgangslage machte die Übersetzung von Darwins Buch für ihn zu einer großen Herausforderung. Bronn kämpfte bei seiner Übersetzungsarbeit vor allem mit Begriffen wie "natural selection", "perfected", "favoured" und "improved", die Darwin ohne erkennbares Muster benutzte. Bronn wählte "Züchtung" als Übersetzung für "selection"; Carus entschied sich für "Zuchtwahl", und dieser Begriff wurde auch von Neumann übernommen und blieb bis heute erhalten. Beide Termini spiegeln die Problematik der Wortwahl Darwins wider, denn wer oder was züchtet oder wählt? Für Bronn war dieser Begriff besonders heikel. Er sah die Natur als von mechanistischen, unpersönlichen Gesetzen gesteuert und wollte die natürliche Zuchtwahl als einen solchen naturgesetzlichen Prozess beschreiben. Eike Schönfeld wählt nun den in der Wissenschaft geläufigen Begriff der "Selektion", der immer noch aktive, bewusste Wahl andeutet, aber inzwischen zu einem vorrangig wissenschaftlich-technischen Begriff geworden ist. Diese Entscheidung überzeugt.
Bronn übersetzte "perfected" - und "gelegentlich "improved" - als "vervollkommnet", während Schönfeld konsequent "perfected" als "vervollkommnet" und "improved" als "verbessert" übersetzt. Warum Darwin überhaupt von "perfection" sprach, ist nicht völlig geklärt, denn seine Theorie unterminierte die traditionelle Denkweise von "höheren" und "niederen" Lebensformen. Möglicherweise versuchte er - wie dann auch Bronn - die tief verwurzelte und vertraute Terminologie der idealistischen Morphologie zu vereinnahmen; Darwin schrieb "perfected", aber der Kontext machte deutlich, dass er nicht absolute Vervollkommnung meinte, sondern relative Konkurrenzfähigkeit. Diese Beispiele illustrieren die historischen Randbedingungen und die sprachliche Flexibilität, die Darwins Werk so außerordentlich deutbar machen. Die Übersetzungen spiegeln die daraus folgenden Schwierigkeiten.
Schönfelds modernisierte Übersetzung führt unweigerlich zu einer größeren Distanz des Texts zu seinem ursprünglichen Kontext; und sie verringert seine Distanz zur modernen Biologie. Das mag unvermeidlich sein. Aber um interessierten Lesern die Verbindung zwischen Werk und Kontext zu verdeutlichen, wären ein ausführlicheres Nachwort, Kommentare und Anmerkungen sehr nützlich gewesen. Leider bietet das Nachwort von Josef Reichholf nur wenig wirklich Neues und Erhellendes. Es stellt Darwins Werk in erster Linie in den Zusammenhang aktueller wissenschaftlicher Debatten und widmet sich damit hauptsächlich Themen, die man anderswo ausführlicher behandelt findet. Reichholf möchte diese Neuübersetzung auch als Waffe im Kampf gegen religiösen Fundamentalismus und andere Attacken auf die Wissenschaft sehen.
Aber kann das Gründungswerk der modernen Evolutionsbiologie wirklich eine solche Rolle spielen? Darwins Werk ist von solch enormer Bedeutung geblieben nicht, weil alles in den ersten sechs Auflagen schon vorweggenommen wurde, sondern weil es bis in die Gegenwart ein außerordentlich fruchtbares, weitreichendes und dynamisches Forschungsprogramm inspirierte. Der Reichtum des Werkes steckt nicht in der Originalfassung, sondern in den noch lange nicht abgeschlossenen Entwicklungen, die es angestoßen hat. Trotzdem bleibt es lohnenswert, Darwin zu lesen. Zu verfolgen, wie Darwin mit einer Fülle von Beobachtungen und Argumenten, zudem mit rhetorischem Geschick und stilistischem Schliff den Leser von seiner Theorie zu überzeugen sucht, ist ein intellektuelles Vergnügen.
THOMAS WEBER
Charles Darwin: "Der Ursprung der Arten". Mit einem Nachwort von Josef H. Reichholf.
Aus dem Englischen von Eike Schönfeld.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2018.
612 S., geb.
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