Besprechung vom 27.05.2020
An die Salzach muss gepilgert werden
Gründlicher Erzähler und Geburtshelfer der Salzburger Festspiele: Ernst Lothars Erinnerungen
Wenn die Salzburger Festspiele in diesem Sommer ihr hundertjähriges Bestehen begehen, wird dabei vor allem der drei berühmten Gründungsväter Hugo von Hofmannsthal, Max Reinhardt und Richard Strauss gedacht werden. Aber es gibt noch einige weniger bekannte Helfer für die Erfolgsgeschichte dieses Festivals. Zu ihnen gehört der Schriftsteller und Regisseur Ernst Lothar. Er arbeitete als Beamter die rechtlichen Grundlagen für die Salzburger Festspiele aus, die er sich als international ausstrahlendes "Zentrum angestrebter Vollkommenheit" vorstellte, ermöglicht durch die "Konzentrierung der bedeutendsten künstlerischen Anreger", weshalb die Reise an die Salzach wie "eine Pilgerfahrt" sein sollte.
Ernst Lothar wurde 1890 als Ernst Müller in Brünn als Sohn eines Rechtsanwaltes geboren. Unwillig studierte er auf Wunsch des Vaters in Wien Jura, schrieb dort jedoch lieber im Kaffeehaus an seinem ersten Roman. Ab 1910 änderte er seinen Familiennamen in Lothar, um sich von seinem Bruder Hans, ebenfalls Schriftsteller, abzugrenzen. Er war Soldat im Ersten Weltkrieg, dann Staatsanwalt, ehe er sich mit Mitte dreißig als "Hofrat" pensionieren ließ und sich ganz den Künsten widmete. Er wurde Theaterkritiker - sein Großonkel war der einflussreiche Wiener Musikkritiker Eduard Hanslick - und entwickelte in seinen Artikeln eine Kompetenz, die man zwar "widerwillig", aber letztlich aufmerksam billigte.
Nach einer Kritik eines Stücks von Franz Grillparzer schlug ihm Hugo von Hofmannsthal vor, selbst Regisseur zu werden. Das war Lothar auch bald als Gast am Burgtheater vergönnt, dessen Ensemble ihn bereits zuvor gebeten hatte, die Direktion des Hauses zu übernehmen, was allerdings an politischen Ränken scheiterte - obwohl er den Regie-Star Max Reinhardt für zwei bis drei Inszenierungen pro Saison mitbringen wollte. Das Verhältnis der beiden war von hoher Wertschätzung geprägt. Auf Vorschlag Reinhardts wurde Lothar Nachfolger für das Wiener Theater in der Josefstadt und leitete das Haus von 1935 bis 1938 finanziell wie künstlerisch höchst erfolgreich. Reinhardt traf er in Amerika wieder, wohin beide, ihrer jüdischen Herkunft wegen, vor den Nationalsozialisten exiliert waren. Am 30. November 1943 hielt er die Gedächtnisrede bei der Trauerfeier für Max Reinhardt in der New Yorker Carnegie Hall.
Bis dahin war es ein schwieriger Weg gewesen. Ernst Lothar, der überzeugte Österreicher, hatte seine Heimat verloren, seine Muttersprache und wegen Krankheiten zwei Kinder. Davon erzählt er in seinen 1960 veröffentlichten Erinnerungen, die nun noch einmal erschienen sind. In den Vereinigten Staaten musste Lothar sich eine Reputation von null an aufbauen. Mit Raoul Auernheimer hatte er in New York ein "Austrian Theatre" gegründet, das sich indes nicht lange halten konnte. Statt am Theater verdiente er sein Geld danach auf Vortragsreisen und als Dozent am Colorado College sowie mit seinen im Exil verfassten Romanen, die in den Vereinigten Staaten ein großes Lesepublikum fanden. Als "lebenslänglicher Europäer" sehnte er sich stets nach Österreich, ungeachtet der befürchteten Probleme: "Übrigens kehre ich nicht zu Leuten zurück, sondern zu einer Landschaft, die ich zum Leben brauche."
1946 kommt Lothar als amerikanischer Offizier im Dienst der Siegermacht Amerika zurück in seine Heimat, um dort für die Entnazifizierung im kulturellen Sektor zu sorgen. Zwar fühlt er sich endlich zu Hause, doch täuscht er sich nicht darüber, dass er als Emigrant wenig wohlgelitten ist: Den Amerikanern ist er zu nachsichtig, den Österreichern zu streng. Sie wollen nicht an ihre Schuld erinnert werden, lieber "unter sich bleiben" und ihr "angegriffenes Gewissen schonen".
Fast zerrissen zwischen den verschiedenen Anforderungen gibt er die amerikanische Staatsbürgerschaft schließlich auf und wird wieder Österreicher, obwohl er sieht, dass der Antisemitismus nach wie vor sämtliche Gesellschaftsschichten durchdringt. Er arbeitet abermals als Regisseur und ist maßgeblich an der Wiederbelebung der Salzburger Festspiele beteiligt, zu deren Direktorium er zeitweise gehört.
Ernst Lothar ist ein gründlicher und geduldiger Erzähler, der die Dinge von allen Seiten zu betrachten versteht. Wie ein guter Regisseur, der sich in die Tiefenstrukturen eines Theaterstücks versenkt, urteilt er erst, nachdem er sich ausführlich mit der Alltagswirklichkeit in den Vereinigten Staaten oder im Nachkriegsösterreich beschäftigt hat. Beim Neustart versucht er etwa zu vergessen, wie sich frühere Kollegen und Mitarbeiter während seiner Emigration verhalten haben: "Keiner hat das bisschen Mut gehabt, dir eine Zeile zu schreiben oder die Botschaft zu schicken, wir denken an dich, wie geht es dir. Nicht einer." Etliche Seiten danach korrigiert er sich und lobt ausgerechnet die Schauspielerin Paula Wessely, die wegen ihres Mitwirkens in dem nationalsozialistischen Propagandafilm "Heimkehr" 1945 einige Monate mit Auftrittsverbot belegt war: "Sie war die Einzige gewesen, es kam uns jetzt in Erinnerung, als sie plötzlich dastand; ,wir leben davon', hatte sie Adrienne nach Paris geschrieben, ,was Reinhardt und Ihr uns hinterlassen habt!'" Ob bei Herbert von Karajan, Werner Krauß oder bei belasteten Mitgliedern der Wiener Philharmoniker, überall wird Lothar mit den ästhetisch-ethischen Folgen und Verwerfungen der NS-Zeit konfrontiert. An seinem idealisierten Österreich-Bild ändert das nichts, denn es verdankt sich weniger der schnöden Realität als der Kunst Franz Grillparzers, Hugo von Hofmannsthals und Arthur Schnitzlers, den Wasserspielen im Schlossgarten von Hellbrunn und dem "Blick auf die Festung Hohensalzburg" als "Sieg Mozarts über die Kerker".
Ernst Lothar verstarb 1974 in Wien. Es ist entschieden an der Zeit, ihn wieder zu lesen oder sich seine grandiose Inszenierung von Schnitzlers "Das weite Land" (1959) anzusehen, die zum Glück als DVD in der Edition Burgtheater erhältlich ist.
IRENE BAZINGER.
Ernst Lothar: "Das Wunder des Überlebens". Erinnerungen.
Mit einem Nachwort von Daniel Kehlmann. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2020. 384 S., geb.
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