Eine unverzichtbare Stimme zur Lage der Demokratie in Ost und West
Der 9. November 1989. In Berlin fällt die Mauer. Es ist einer der glücklichsten Momente der deutschen Geschichte. Ines Geipel ist bereits im Sommer in den Westen geflüchtet und erlebt den Zeitriss, die Hoffnungen und Aufbrüche als Studentin in Darmstadt. 35 Jahre danach erinnert sie sich: Wie fühlte er sich an, dieser historische Moment des Glücks? Wie erzählen wir uns Ost und West und die Wiedervereinigung? Woher kommt all der Zorn, woher die Verleugnung, wenn es um den aktuellen Zustand des Landes geht? Mit großer Klarheit und Offenheit geht Ines Geipel in ihrem Buch »Fabelland« noch einmal zurück. Zurück in die politische Umbruchslandschaft nach 1989, in die eigene Familie, zurück in all die verstellten, besetzten Räume der Erinnerung, zurück zu den Verharmlosungen und Legenden, die die Gegenwart so vergiften. Ein fesselndes, nein, ein befreiendes Buch, das auf die Frage zuläuft: Können die Deutschen ihr Glück auch verspielen?
Besprechung vom 30.08.2024
Am Boden klebt der Zorn
Ines Geipel räumt Geschichten vom Osten als Verlierer der deutschen Wiedervereinigung ab.
Die deutsche Einheit wird 35, also erwachsen. Da ist es Zeit, Bilanz zu ziehen, und die fällt zunehmend mies aus: Auf eine fröhliche Kindheit folgte eine schwierige Jugend und nun eine zerknirschte Erwachsenenexistenz. Die Wiedervereinigung, so sagen immer mehr Politiker, Kommentatoren und Umfragen, ist schiefgegangen. Durchgesetzt hat sich die Erzählung vom unterworfenen, kolonisierten und kleingehaltenen Osten, der in die Fänge des Westens geraten ist.
Ines Geipel ist damit überhaupt nicht einverstanden und dreht die These um: Nicht der Westen, der Osten hat gewonnen. Es ist ihm gelungen, seine schlecht gelaunte Opfererzählung dem ganzen Land aufzudrücken, sodass inzwischen selbst Westdeutsche reumütig von den Versäumnissen der Wiedervereinigung sprechen. Dabei war das Ganze doch eine Erfolgsstory: Ein Land befreit sich von einer Diktatur und entschließt sich, zur "Welt" zu "gehören".
Geipel fragt, warum man davon nichts mehr wissen will, und reist noch einmal an den Anfang zurück: Sie erzählt von der Euphorie der ersten Wochen, dem "Ende der Befehle" und einem herrlichen "Interregnumsgefühl", das schnell einer Ernüchterung weicht, in die sich die ersten Misstöne schleichen: Arrogante Wessis, die im Osten einrücken und Ansprüche auf Alteigentum geltend machen. Betriebe, die reihenweise pleitegehen. Die Treuhand, der Bergarbeiterstreik von Bischofferode und lauter verzweifelte Ossis, die in sterbenden Städten statt blühenden Landschaften leben.
Für Geipel sind das alles Mythen. Die Eigentumsfrage? Größtenteils zugunsten der Ossis entschieden. Die Treuhand? Konnte auch nichts mehr retten. Bischofferode? Von Westlinken und DDR-Stalinisten unterwandert. Überhaupt die "Altkader", überall sieht Geipel sie am Werk und liefert damit eine Cliquentheorie ostdeutscher Kulturmacht. Nach dem Mauerfall kamen zunächst die Stasi-"Schredderer" und vernichteten Beweise für DDR-Verbrechen. Anschließend formierte sich ein "Verleugnungskartell", das die Diktatur verharmloste. Das gelang durch Infiltration von Parlamenten, Behörden, Polizei, Universitäten, Medien und Kulturmilieus. Flankiert wurden es von Intellektuellen, die den Ossi zum Opfer stilisierten: von Heiner Müller über Hans-Joachim Maaz und Wolfgang Engler bis zu heutigen Vertretern der Ostcolonial Studies wie Dirk Oschmann.
So entstand eine "Wut", ein "Ressentiment", das allmählich "tatkräftig" wurde. Um es zu verstehen, müsste man, so Geipel, "die ganze Gegend erzählen". Hier erweist sie sich als Anhängerin der Gefühlsraumtheorien von Hermann Schmitz und von Gernot Böhme, bei dem sie in Darmstadt studierte, als die Mauer fiel. Das Gedächtnis, so Böhme, befindet sich "zur Hälfte draußen". Der Zorn klebt am Boden. Gräbt man ein bisschen, dann findet man Rohstoffe, Sprengstoffe, die sich für politisches Unternehmertum eignen. Das haben anfangs Linke für sich zu nutzen gewusst, inzwischen jedoch überwiegend Rechte. Geipel findet das nur konsequent, denn im Inneren habe die Diktatur die ganze Zeit weitergelebt. Die blockierte Aufarbeitung des Nationalsozialismus in der DDR, "Gefühlsstau" und Verpanzerung durch einen Mangel an Therapie sowie die Erzählung von den Ossis als Opfer zunächst der Nazis und dann der Wessis seien genau das, worauf die AfD zurückgreifen könne. Maximilian Krah wäre demzufolge nicht, wie er behauptet, der deutsche Trump, sondern der deutsche Putin, der aus postkolonial zurechtgebogenem Ressentiment Kapital schlägt. Vielleicht ist er aber auch der deutsche Modi.
Möglich wurde das - und hier hat der Westen eben doch eine Mitschuld - durch ein eingeübtes Rollenspiel in NS-Fragen: der Osten als Opferkollektiv, der Westen als Gemeinschaft reuiger Täterkinder. Beide konnten ihre Haltung nach 1989 beibehalten und aufeinander beziehen. Sie harmonieren so gut miteinander, dass sie aus ihren Disharmonien nicht mehr herauskommen.
Doch so erfolgreich der Osten mit seiner Erzählung auch ist, er ist natürlich trotzdem ein Verlierer. Er hat sich ums "Glück" gebracht, so Geipel, die eine neue Erzählung fordert. Worin die bestehen kann, wird nur angedeutet: Abschüttelung einer Diktatur und Orientierung in neuer Umgebung. Das ist schon allerhand. Wer so beharrlich Mythen dekonstruiert, arbeitet allerdings meist selbst an einem - dem von der glücklichen Zusammenführung, die nur durch Fehleinschätzungen getrübt wird. Ist an der Kolonisierungsthese wirklich nichts dran? Was ist mit den Posten und den Eigentumsverhältnissen im Osten, die größtenteils Westangelegenheiten sind? Weiterhin wäre zu prüfen, ob nicht auch besonders tragische Verwicklungen vorliegen. Zum Beispiel hat der Mauerfall, wie die Psychologin Maike Salazar Kämpf schreibt, zu Problemen für Ostfrauen geführt. Ihre alte Rolle als Arbeitsbiene traf auf das westliche Bild vom Hausmütterchen. Das Schlechte aus beiden Welten kam zusammen - und war nicht zusammenzubringen. Hier liegt der sonderbare Fall eines Misslingens der Einheit durch Gelingen vor, vermutlich gibt es noch weitere. Vielleicht ist daher die Gefühlsraum-Theorie noch triftiger, als Geipel es wahrhaben will: Die Deutschen sind von einer Unfähigkeit zur Einheit befallen. Sie ersehnen sie, erkämpfen sie und werfen sie dann wieder über den Haufen. Deutschland ist verhext. Da kann man vermutlich nicht viel machen. MORITZ RUDOLPH
Ines Geipel: "Fabelland". Der Osten, der Westen, der Zorn und das Glück.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2024. 320 S., geb.
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