Besprechung vom 21.08.2021
Vorsicht vor den Anklagen abtrünniger Ordensbrüder!
Intuition als besondere Form der Gotteserkenntnis: Der Historiker Joel F. Harrington folgt auf überzeugende Weise den Denkwegen von Meister Eckhart
Spätestens seit der Romantik dient das europäische Mittelalter in vielerlei Hinsicht als der "ferne Spiegel" (Barbara Tuchman), der eine fast unbegrenzte Projektionsfläche bietet, um aktuelle Fragestellungen und Krisensituationen besser verstehen, analysieren und deuten zu können. Zwar wird das Mittelalter dabei heute nicht mehr in dem Maße enthistorisiert und - aus ideologischen, nationalen oder religiösen Gründen - als eine Zeit verherrlicht, in der alle Dinge noch ihre Ordnung hatten, wie man es aus früheren Epochen kennt. Aber der Rückgriff auf die Vergangenheit dient, wenn auch behutsam, noch immer oft genug dazu, Idealverhältnisse zu rekonstruieren, welche die heutige Gesellschaft, Kultur oder Religion nicht mehr vorzuweisen haben.
Momentan stellt die Krise der katholischen Kirche in Deutschland zweifellos eine solche Problemkonstellation dar. Dies mag den Verlag bewogen haben, die Meister-Eckhart-Biographie des amerikanischen Historikers Joel F. Harrington, welche vor drei Jahren unter dem Titel "Dangerous Mystic: Meister Eckhart's Path to the God Within" erschien, mit dem Untertitel "Der Mönch, der die Kirche herausforderte und seinen eigenen Weg zu Gott fand" zu versehen. Das tut als effekthascherische Plattitüde ein wenig weh; vor allem aber, weil es der vorliegenden Darstellung nicht gerecht wird. Denn gerade diese Sicht auf Meister Eckhart ist es, gegen die Harrington anschreibt.
Zwar geht auch er von der besonderen Leistung Eckharts aus, in seinem mystischen Denken den Weg zu Gott als einen persönlichen Weg ins eigene Innere eröffnet zu haben, der die Notwendigkeit äußerer Institutionen infrage zu stellen drohte. Aber gerade darin äußert sich für Harrington das genuin religiös-kirchliche Interesse des Dominikaners, dessen Absicht es keineswegs war, das Ansehen der Kirche zu unterminieren. Wenn der Klappentext der deutschen Ausgabe verheißt, es sei dieses "verblüffend moderne Denken" gewesen, das "den Mönch Eckhart in Konflikt mit der Kirche (brachte), die sich von der Sprengkraft seiner Ideen herausgefordert fühlte", dann kommt Harrington zu dem sehr viel nüchterneren und mit guten Gründen auch zutreffenderen Schluss: "Vielmehr fiel Eckhart dem Zusammentreffen widriger Umstände zum Opfer, bei dem die verzweifelten Anklagen zweier abtrünniger Brüder die Aufmerksamkeit eines eifersüchtigen Erzbischofs erregten, der zufällig die Rückendeckung seines politischen Verbündeten, des Papstes, genoss."
Harrington ist also gerade bemüht, Eckharts Biographie und Denken als Kontinuität und nicht als Bruch zu erzählen. Das gelingt ihm außerordentlich informativ und unterhaltsam. In vier gekonnt komponierten Teilen präsentiert er Eckharts Leben, indem er sich ganz am zentralen Eckhart'schen Begriff der "gelâzenheit" orientiert: "Die Welt loslassen" beginnt mit dem jungen Mann aus gutem Thüringer Hause, der sich für die Dominikaner begeistert und sich für ein Leben als Mönch entscheidet; "Gott loslassen" taucht mit dem Gelehrten Eckhart in das bunte Leben der Universität und Stadt Paris ein und beschreibt Eckharts Ringen um eine rational begründete, adäquate Rede von Gott; "Sich selbst loslassen" folgt dem gereiften Prediger nach Straßburg, wo er vor dem einfachen Volk seine Lehre von der Gottesgeburt in der Seele verkündet. Der vierte, dem Inquisitionsprozess und schließlich der Wirkungsgeschichte gewidmete Teil "An der Religion festhalten" verdeutlicht Harringtons Stoßrichtung, Eckhart ohne Abstriche als religiösen Denker beziehungsweise Vertreter der christlichen Religion darzustellen.
Im Hintergrund steht dabei die immer wieder explizit genannte Absicht Harringtons, das verzerrte Bild Meister Eckharts zu korrigieren, mit dem vor allem neuere Spiritualitätsbewegungen, die sich zum Teil explizit als religionslos oder atheistisch bezeichnen, werben, wenn sie Meister Eckhart für ihre vornehmlich therapeutischen Interessen oder für eine "persönliche Erleuchtung zum Zweck der Selbstverwirklichung" vereinnahmen. Für den Historiker Harrington können solche Verzerrungen nur behoben werden, indem Eckhart in seinem historischen Kontext präsentiert wird. Da jedoch nur wenige biographische Daten des Meisters erhalten sind, bleibt der Leitfaden der Darstellung Eckharts philosophisch-theologisches Denken, wie es sich in seinen zahlreichen Traktaten und Predigten widerspiegelt.
Es ist beeindruckend, wie breit und gleichzeitig vertieft sich Harrington mit Eckharts Werk auseinandersetzt und dabei auch die neuere Eckhart-Forschung zu Wort kommen lässt. Insbesondere ist er bemüht, den Begriff der Intuition als besondere Form der Gotteserkenntnis ernst zu nehmen und zu erläutern. Teilweise geschieht das zu stark in Abhebung von einer scholastisch-rationalen Gotteserkenntnis, die Eckhart laut Harrington als gescheitert ansieht; hier hätte stärker betont werden können, dass auch die Intuition einen Erkenntnismodus (philosophiehistorisch betrachtet: eine intellektuelle Einsicht) und nicht etwa - im modernen Sinne des Wortes "intuitiv" - etwas Gefühlsmäßiges darstellt.
Aber durch den engen Textbezug (die ausführlichen Anmerkungen am Schluss des Buches weisen jede Stelle zum Nach- und Weiterlesen nach) gelingt es Harrington, kundig und verständlich in die Grundgedanken Eckharts einzuführen. Dabei wird nicht nur die Person des Dominikaners lebendig, sondern es entsteht gleichzeitig das Panorama des mittelalterlichen Denkens, in dem religiöses Interesse und rationale Begründung sich nicht ausschließen, sondern zu dessen Selbstverständnis es zählt, sich kritisch und argumentativ mit dem Geglaubten auseinanderzusetzen.
Eckharts religiöse Verortung präsentiert Harrington fern jeder Apologetik wohltuend unaufgeregt und sachlich. Ob diese Zurückhaltung aber nicht doch ihren Preis hat? In der gegenüber Eckhart sehr freundlichen Darstellung des Verhältnisses des Meisters zur 1310 in Paris öffentlich verbrannten Begine Marguerite Porete hätte man sich kritischere Töne gewünscht. Immerhin gibt es zwischen Eckhart und der zu Unrecht verurteilten, aber bis heute nicht rehabilitierten Marguerite erstaunlich dichte Übereinstimmungen. Zu simplifizierend hangelt sich Harrington hier mithilfe der Kategorien von Orthodoxie und Häresie über ein schwieriges Kapitel der Kirchengeschichte hinweg, um Eckhart mit der Rechtgläubigkeit in Einklang zu bringen. Obwohl Harrington nie in der Gefahr steht, seinen Protagonisten zu verherrlichen - an solchen Stellen wird die Parteinahme dann doch unübersehbar. ISABELLE MANDRELLA.
Joel F. Harrington: "Meister Eckhart". Der Mönch, der die Kirche herausforderte und seinen eigenen Weg zu Gott fand.
Übersetzt von N. Juraschitz und A. Thomsen. Siedler Verlag, München 2021. 545 S., geb.
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