Kirsten Boies "Dunkelnacht" ist ein eindringlicher und historisch fundierter Roman, angesiedelt in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs, der sich auf die tragischen Ereignisse konzentriert, die sich im bayerischen Städtchen Penzberg abspielten. Das Werk, das sowohl mit dem Katholischen Kinder- und Jugendbuchpreis als auch mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet wurde, taucht tief in ein dunkles Kapitel der Geschichte ein und veranschaulicht die verheerenden Auswirkungen des Zusammenbruchs des Nazi-Regimes auf lokale Gemeinschaften. Durch die miteinander verwobenen Leben der jungen Protagonisten Marie, Schorsch und Gustl erkundet Boie Themen wie Mut, Widerstand und die moralischen Dilemmata, mit denen diejenigen konfrontiert waren, die zwischen der Treue zu ihrem Land und dem Streben nach Gerechtigkeit und Menschlichkeit gefangen waren.
"Dunkelnacht" dient nicht nur als narrative Brücke, die die Vergangenheit mit der Gegenwart verbindet, sondern auch als mahnende Erinnerung an die im Namen einer Ideologie begangenen Gräueltaten. Boies akribische Recherche und packende Erzählweise bringen die Hinrichtung von Widerstandskämpfern durch die Wehrmacht ans Licht und heben das komplexe Geflecht aus Angst, Verrat und Heldentum hervor, das die Ära prägte. Die Erzähltechnik des Romans, gekennzeichnet durch prägnante, doch kraftvolle Prosa, fängt das Wesen einer durch Krieg und Tyrannei zerrissenen Gemeinschaft ein.
Kritiker und Leser haben "Dunkelnacht" gleichermaßen für seine Fähigkeit gelobt, Geschichte zu vermenschlichen und einen Blickwinkel zu bieten, durch den die emotionale und psychologische Landschaft des kriegsgebeutelten Deutschlands lebendig dargestellt wird. Der Fokus des Romans auf die Jugend, die im Kreuzfeuer historischer Ereignisse gefangen ist, bietet eine einzigartige Perspektive auf die Widerstandsfähigkeit und Zerbrechlichkeit des menschlichen Geistes in Krisenzeiten.
Boies "Dunkelnacht" ist mehr als nur ein historischer Roman; es ist eine kritische Betrachtung der Folgen von Extremismus und der Bedeutung, sich an die Vergangenheit zu erinnern, um unser Handeln in der Gegenwart und Zukunft zu informieren. In einer Zeit, in der Nationalismus und Intoleranz in verschiedenen Teilen der Welt erneut aufkommen, steht "Dunkelnacht" als Zeugnis für die anhaltende Notwendigkeit von Empathie, Verständnis und dem Mut, für das Richtige einzustehen.
Besprechung vom 22.03.2021
Das soll man verstehen
Ein großer Wurf: Kirsten Boie erzählt in "Dunkelnacht" von den mörderischen letzten Tagen des Kriegs
Wie um Himmels willen haben sie weiter zusammengelebt in dieser Stadt nach dem Ende des Krieges: die Witwen und die Waisen der Opfer - und die Frauen und Kinder der Täter?" Kirsten Boie stellt sie in ihrem Nachwort selbst, die Fragen, die einen umtreiben. Und dazu gehört unbedingt, dass man diese Fragen auf den ersten Blick gar nicht sieht. An vielen Orten nicht und auch nicht in Penzberg, in der Nähe des Starnberger Sees.
Ein hübsches Städtchen mit freundlichen Menschen, oberflächlich besehen ist das einzig Kuriose der kohlegefüllte Hunt an einem Kreisel zum Ortseingang, der als Denkmal daran erinnert, dass hier, in der oberbayerischen Idylle, bis 1966 Kohle gefördert worden ist. Und wer an der "Straße des 28. April 1945" vorbeikommt, der denkt sich allenfalls: Das wird der Tag gewesen sein, an dem die Penzberger, wie viele andere Bayern, die weißen Betttücher heraus- und die Hitlerbilder abgehängt haben, weil die Amerikaner kamen.
Dass es der schwärzeste Tag war, den Penzberg je erlebt hat, schwärzer, als Kohle sein kann, das weiß man nur, wenn man länger sucht. Nach dem Denkmal oder der Ausstellung im Stadtmuseum. Am 28. April 1945 hat sich die "Penzberger Mordnacht" ereignet, 16 Menschen, 14 Männer und zwei Frauen, eine davon hochschwanger, mussten sterben, erhängt, erschossen als "Verräter". Ein Regiment von Soldaten, deren Anführer an den Endsieg glaubten, und der Mob der nationalsozialistischen "Werwölfe" hat sie ermordet, weil zuvor der sozialdemokratische Altbürgermeister, wie viele andere, geglaubt hatte, der Krieg sei schon beendet. Ein tödlicher Irrtum, der in einer Mischung aus Fanatismus, Rachsucht, Denunziation und unterlassener Hilfeleistung dazu führte, dass sich die Täter in eine Art Blutrausch steigerten.
Das könne wieder passieren, hat vor einigen Jahren ein Zeitzeuge gesagt. Er war 14 Jahre alt, als sich die Mordnacht ereignete, eines von vielen der sogenannten Endphasenverbrechen. So alt ist auch Marie, eine der drei Jugendlichen, die miterleben, wie Freunde, Bekannte, Nachbarn ermordet werden. Ihr Vater bleibt durch einen Zufall verschont. Mit Marie, Schorsch und Gustl hat sich Kirsten Boie drei ganz und gar lebendige Figuren ausgedacht, um die "Penzberger Mordnacht", so lange sie her ist, gegenwärtig zu machen. Wie der Zeuge von einst sieht Boie Erinnerungen verblassen, das Interesse an der deutschen Geschichte ab- und die Verharmlosung, sogar Bewunderung für die Taten des Nationalsozialismus zunehmen.
Dagegen schreibt sie an. Mit "Dunkelnacht" ist ihr in einer straffen Novellenform ein großer Wurf gelungen. Ein fesselndes Stück Literatur, das Archiv-Recherche und Bericht mit Fiktion zu einer Novelle verwebt, die, wie man es sich wünscht, aber nicht immer bekommt in der Jugendliteratur, noch viel mehr Fragen, Schichten, Zusammenhänge hervorholt, als auf der Erzähloberfläche zu sehen ist. Dort wird chronologisch erzählt und im Grunde ruhig, aber doch in kurzen Kapiteln wie mit angehaltenem Atem, stets wie in einem Drama die beteiligten Personen vorangestellt.
Deren Konflikte treten rasch zutage: Schorsch, 15 Jahre alt, der Sohn des örtlichen Polizeimeisters, ist verliebt in Marie, der 16 Jahre alte Gustl ist es auch. Aber Gustl, dessen Eltern "Rote" gewesen sind, ist zu den "Werwölfen" gegangen, um mit Rache an den "Volksverrätern" die Schande der Eltern abzuwaschen. Ein Fanatiker, bis ihn die Grausamkeit seiner erwachsenen Kameraden spüren lässt, dass nichts solche Verbrechen rechtfertigen kann. "Was wird Marie zu ihm sagen, wenn Frieden ist?", fragt sich Gustl, die Antwort bleibt offen. Aber Marie, die Tochter des roten Metzgers, und Schorsch, der Sohn des regimetreuen Polizisten haben gesehen, wie der alte Bürgermeister und seine sieben Kollegen am Sportplatz erschossen worden sind. Mit Schorsch hetzt der Leser von Tat zu Tat. Mit der Erzählerstimme lauscht er feigen Ausreden, erkundet die niedrigsten Beweggründe, hört das Nazi-Vokabular, das klingt wie frisch aus Internet-Filterblasen geschöpft. Nichts davon ist plakativ oder grob, oft mehr angedeutet - und umso wirkungsvoller.
Boie hat sich für eine beinahe traditionelle "allwissende" Erzählweise entschieden und zeigt doch eine Stimme, deren Allwissenheit scheitern muss an jener Frage, wie das denn kommen konnte: dass ganz normale Leute zu "Werwölfen", zu Mördern an ihren Nachbarn wurden. Und wie in aller Welt man denn danach weitermachen könne? Zumal nach langen Prozessen die Täter nur wenige Jahre später wieder auf freiem Fuß waren. "Sechzehn Ermordete und kein einziger Mörder. Das soll man verstehen", schreibt Boie im Nachwort.
Auch ihre Erzählerstimme drückt sich nicht davor, diese Fassungslosigkeit zu zeigen, in kurzen Sätzen, in Auslassungen, in Szenen, die nah herangezoomt werden. Mit all den Zwischentönen, den Originalnamen und Schauplätzen, Parolen und Begriffen des Nationalsozialismus, sogar dem angedeuteten umgangssprachlich-bayerischen Reden, das Nähe erzeugt, ergäbe "Dunkelnacht" ein in allen Schattierungen schwarzgraues Bild, wären da nicht die Lichtblicke. Leute, die das Richtige tun, auch in solchen Zeiten. Wie Schorsch, der zum Retter wird und lernt: "Die Angst bleibt nicht immer der Sieger."
EVA-MARIA MAGEL
Kirsten Boie: "Dunkelnacht". Novelle.
Oetinger Verlag, Hamburg 2021. 112 S., geb., 13,- [Euro]. Ab 15 J.
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