Stefan Zweig, einer der erfolgreichsten Autoren deutscher Sprache entstammte einer wohlhabenden jüdischen Familie, in der allerdings die jüdische Tradition kaum eine Rolle spielte. Seine Korrespondenz aus den Jahren 1900 bis 1940, unter anderem mit Martin Buber, Anton Kippenberg, Romain Rolland, Felix Salten und Chaim Weizmann vermittelt unmittelbare Einblicke in die Gedanken des weltberühmten Schriftstellers zum Judentum und zum Zionismus, die in dieser Form bisher nur aus wenigen Werken herauszulesen war.
Die vorliegende von Stefan Litt zusammengestellte und kommentierte Edition umfasst 120 in der Mehrzahl bislang unveröffentlichte Briefe und unternimmt erstmals den Versuch, Zweigs Stellung zum Judentum genauer zu erschließen.Besprechung vom 18.02.2021
Die hohe Aufgabe
Stefan Zweig ist ein gestörtes Verhältnis zum Zionismus nachgesagt worden. Seine "Briefe zum Judentum" erlauben nun ein differenziertes Bild.
Ich wünschte mir", schreibt Stefan Zweig im Mai 1934 an Chaim Weizmann, der ihm den Entwurf seiner Autobiographie geschickt hatte, "eine gewisse Darstellung der verschiedenen Judenklassen in Russland, Deutschland, England in der Vorkriegszeit, denn jene Generation des sicheren Wohlbehagens ist, so fürchte ich, inzwischen eine schon historische geworden."
Zweig befindet sich zu diesem Zeitpunkt bereits in London. Kurz zuvor hatten Polizisten sein Haus in Salzburg durchsucht, und zwei Tage später ging er ins Exil. Der Schriftsteller, der oft als politisch naiv gilt, hatte die Lage sofort durchschaut, sah schon vier Jahre vor dem Anschluss das bittere Ende voraus. Nach Ausbruch des Krieges ging er von London zuerst nach Amerika und schließlich nach Brasilien, wo er und seine Frau sich Anfang 1942 das Leben nahmen.
Der Macht des Bösen, die sich Europas bemächtigt hatte, war er nicht gewachsen, und seine postum erschienene Autobiographie nannte er "Die Welt von gestern". In ihrer vernichtenden Rezension des Buches war es Hannah Arendt, die das Urteil festschrieb, Zweig sei ein unpolitischer Ästhet gewesen, der nie zu seinem jüdischen Volk gestanden habe. Wie falsch dieses Urteil war, zeigen die jetzt vorliegenden Briefe, in denen Zweig immer wieder auf die Juden und das Judentum zurückkommt.
Ihr Herausgeber, Stefan Litt, betreut die deutsch-jüdischen Nachlässe an der Jerusalemer Nationalbibliothek, und seine sorgfältig edierte Auswahl teilt er in drei Zeitabschnitte. In der ersten Phase, den Jahren von 1900 bis 1918, war Zweig - ein assimilierter Jude, den die Tradition nicht mehr bindet - ein dezidierter Weltbürger, den jeder jüdische Partikularismus befremdete. Zwar war es Theodor Herzl, Feuilletonchef der "Neuen Freien Presse" in Wien, der den jungen Autor entdeckt hatte, aber Herzls Zionismus lehnte Zweig entschieden ab.
In der zweiten Phase, von 1920 bis 1932, fand Zweigs kosmopolitische Haltung auch einen spezifisch jüdischen Ausdruck. Er war nun einer der meistgelesenen Schriftsteller Europas, und im Insel Verlag, dessen Starautor er war, brachte er eine Reihe zweisprachiger Anthologien heraus. Sie sollten deutsche Leser in die Weltliteratur einführen, und in dieser Reihe entstand auch eine hebräische Anthologie.
Ursprünglich waren zwei Bände geplant, die neben klassischen Texten auch Beispiele aus der modernen neuhebräischen Literatur bieten sollten. Erschienen ist nur der erste Band, der von den Zeiten der Bibel bis ins Mittelalter reicht, doch die Anthologie hat große Aufmerksamkeit erregt, zuerst in Deutschland und später auch in der israelischen Literaturforschung.
Hier setzte Zweig ein Konzept um, das dem Zionismus entgegengesetzt war. Während Herzls Nationalbewegung die Juden aus dem antisemitischen Europa herauslotsen sollte, wies Zweig den umgekehrten Weg: Er präsentierte den jüdischen Geist im Rahmen der Weltliteratur und suchte damit die Horizonte eines seit dem Ersten Weltkrieg nationalistisch eingeengten Denkens zu erweitern.
In den Jahrtausenden ihrer Geschichte hatten die Juden nur selten im "verheißenen Land" gelebt, und die Diaspora empfanden sie als ihr "Exil". Mit dem Verlust der religiösen Bindungen verlor sich dieses Gefühl jedoch allmählich. Zweig gehörte zu den modernen Juden, denen die Diaspora ihre eigentliche Heimat war. Er war Pazifist und fühlte sich einem Weltbürgertum ohne nationale Schranken verpflichtet.
In den dreißiger Jahren brach dieses Konzept zusammen. Der dritte Abschnitt des Bandes, von 1933 bis 1941, ist zeitlich der kürzeste, die in ihm versammelten Briefe aber nehmen mehr als die Hälfte des Buches ein. Die Fragen, die das Judentum aufwarf, wurden dringlicher, und in Zweigs Briefen traten sie jetzt deutlich in den Vordergrund.
Die eingangs zitierten Zeilen aus dem Jahr 1934 sind symptomatisch: Stefan Zweig korrespondierte mit Chaim Weizmann, einem der führenden Zionisten seiner Zeit, der später, zwischen 1949 und 1952, zum ersten israelischen Staatspräsidenten werden sollte. Das machte Zweig zwar auch nicht zum Zionisten - Palästina hatte er für sich selbst niemals als eine Zuflucht erwogen -, aber er wusste, dass die Zeiten sich gewandelt hatten und dass andere für sich wählen mussten, was ihm selbst undenkbar blieb.
Der Zionismus ist auch gar nicht das Thema des Briefes. Weizmann berät sich mit Zweig über seine Autobiographie. Er stammt aus Russland, in Deutschland und der Schweiz hat er Chemie studiert, jetzt ist er Professor an der Universität in Manchester, und unermüdlich bringt er das zionistische Projekt voran. Zweig legt ihm nahe, was er einige Jahre später, kurz vor seinem Freitod, auch selbst machen wird: die Welt von gestern zu beschreiben, die jetzt, während die Zeit ihr Zerstörungswerk treibt, rettungslos verloren ist.
Die zionistische Antwort auf die jüdische Not hat Zweig ein Leben lang abgelehnt, aber an seiner Auseinandersetzung mit ihr lassen sich das Wesen und die Tragik dieses Schriftstellers ermessen. "Vielleicht", so schreibt er 1917 an Martin Buber, habe das Judentum die Aufgabe "zu zeigen, dass Gemeinschaft auch ohne Erde, nur durch Blut und Geist, nur durch das Wort und den Glauben bestehen kann"; dann käme der Rückzug in einen eigenen Staat dem Verrat an einer hohen Aufgabe gleich.
Es ist ein Idealismus, den Zweig niemals aufgegeben hat. Aber er war ein genauer Beobachter der menschlichen Seele, und auch beim Blick auf sich selbst machte er sich keine Illusionen. Seinen Brief an Martin Buber schrieb er in den Wirren des Ersten Weltkriegs, und wenige Zeilen später fuhr er fort: "Vielleicht ist diese meine Überzeugung aus einem tiefen Pessimismus über alle Realitäten entstanden, aus einem Misstrauen gegen alles, was wirklich werden soll statt im Geist, im Glauben, im Ideal."
Schon hier - an der Bruchstelle zwischen der "Welt von gestern", wie er die ersten fünfunddreißig Jahre seines Lebens später nennen wird, und einer Zukunft, von der er nichts Gutes erwartet - weiß Stefan Zweig um den Abgrund, an dem er seine Werke schreibt. Die "Sternstunden der Menschheit", um eines seiner berühmtesten Bücher zu nennen, hat er der Dunkelheit einer Nacht abgerungen, die ihn spätestens seit dem Ersten Weltkrieg verfolgt und lange vor dem Ende seines Lebens eingeholt hat.
Zweig war sich seines tiefen Pessimismus bewusst, das hinderte ihn aber nicht, einem jungen Zionisten, mit dem er korrespondierte, Mut zum eigenen Empfinden zuzusprechen. Hans Rosenzweig war sechzehn, als er sich 1921 erstmals an den berühmten Schriftsteller wandte. Zweig verhehlte ihm seine Zweifel am Zionismus nicht, im November 1922 aber schrieb er ihm: "Freilich: Sie wollen nach Palästina! Ich fühle das Schöne, das Aufopfernde dieses Entschlusses. Können Sie es mit ganzer Kraft, mit ganzem Glauben, so ist es gut. Aber gehen Sie nur hin, wenn Sie glauben, nicht aus Ekel vor dieser deutschen Welt, aus einem Ressentiment, das in einer Flucht einen Ausweg sucht."
Dem aktiven Idealismus eines jungen Menschen stellte Zweig sich nicht entgegen, sein eigener Idealismus aber ist immer im Bereich des Geistes und der Kunst geblieben. 1936, schon im Londoner Exil, entstand die Erzählung "Der begrabene Leuchter", in der er für seine Auffassung vom Judentum ein symbolisches Bild fand. "Es ist dies eine grosse Legende", schrieb er im Februar 1937 an den Reformrabbiner Alfred Wolf, "angelehnt an das Schicksal des siebenarmigen Leuchters, der von Jerusalem nach Babylon wanderte, von dort zurückkam, dann wieder von Titus nach Rom gebracht wurde. Nach der Historie gab Justinian dann den Leuchter zurück nach Jerusalem, freilich an eine christliche Kirche, wo er verschwand. In meiner Legende verwandelt sich dies Verschwinden in ein Verborgenwerden mit der Möglichkeit einer Auferstehung."
Zumeist ist das Wort "Auferstehung" christlich besetzt, Stefan Zweig aber deutet es jüdisch: Es ist die Ankunft des Messias.
JAKOB HESSING
Stefan Zweig: "Briefe zum Judentum".
Hrsg. von Stefan Litt. Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 296 S., geb.
© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt.Es wurden noch keine Bewertungen abgegeben. Schreiben Sie die erste Bewertung zu "Briefe zum Judentum" und helfen Sie damit anderen bei der Kaufentscheidung.