Wir erleben das kurze, kometengleiche Leben des Friedrich Nietzsche hautnah mit: Von der beschaulich-christlichen Erziehung, überschattet durch den mysteriösen Tod des Vaters, folgen wir Nietzsche nach Basel, in die Einsamkeit der Schweizer Alpen, erleben das Pathos seines Zarathustra, seine Dramatisierung des Nihilismus und seinen Absturz in den Wahnsinn. Ein einzigartiges Leben - begeisternd, originell, erschütternd, berauschend, filmreif erzählt.
Nietzsche ist ein philosophisches Ereignis und eine weltgeschichtliche Existenz ohnegleichen. Alle Generationen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts hat er beeinflusst und geprägt - mehr als Karl Marx. Nietzsche sprengt die Philosophie, die Bildung, das Bürgerliche, das Menschliche-Allzumenschliche, vor allem aber das 19. Jahrhundert in die Luft. Wie Nietzsche von sich selbst sagte, ist er »kein Mensch, sondern Dynamit« und bis heute einer unserer erstaunlichsten und unheimlichsten Zeitgenossen geblieben. Nietzsche, einzigartig und tragisch - so, wie wir ihn noch nie gesehen haben.
Besprechung vom 17.05.2020
Erschütterung und Euphorie
Sue Prideaux hat in ihrer Nietzsche-Biographie "Ich bin Dynamit" eine hellhörige Sympathie für ihren dünnhäutigen Helden
Die Biographie beginnt an einem Donnerstagabend. Friedrich Nietzsche ist 24 Jahre alt. Er wohnt in Leipzig, wo er Klassische Philologie studiert. An jenem Abend erhält er eine Einladung für den kommenden Sonntag, da könne er Richard Wagner persönlich treffen. Für ihn wäre das die erste Begegnung. Er ist jung und völlig aus dem Häuschen. Was wird er anziehen?
Er denkt sofort an den Schneider, der ihm schon vor Tagen einen Frack versprochen hatte. Von Wagner war damals keine Rede. Der Sonntag kommt, der Anzug kommt nicht. Nietzsche wartet und wird unruhig. Es regnet in Strömen.
Sue Prideaux hat einen wachen Sinn für Konstellationen, Dramen, Szenen, Stimmungen, theoretische Abkürzungen und psychologische Skizzen. Dieses Gespür resultiert aus einer hellhörigen Sympathie für einen dünnhäutigen Helden. Wie vor einem Gemälde, das den Betrachter anzieht, halten sich Distanz und Nähe, Eigensinn und Einfühlung in einem intelligenten leichtfüßigen Gleichgewicht, das Energie verströmt. Wer jetzt weiter, tiefer, höher hinaus will, mag Gilles Deleuzes Buch über Nietzsche lesen.
Endlich klingelt es, ein Bote steht vor der Tür, er hat den Anzug dabei, aber er will Geld kassieren. Nietzsche möchte den Anzug anprobieren, er steht im Hemd da, er will den Anzug haben, er braucht ihn, aber das Geld möchte er dem Schneider persönlich geben. Die beiden rangeln um Jacke und Hose. Der Bote gewinnt und zieht mit dem guten Stück wieder ab.
Nietzsche sitzt im Hemd auf dem Sofa, er gibt sich nicht geschlagen. Dann stürzt er in den alten Klamotten in die stürmische Nacht hinaus, Richtung Wagner.
Können Nichtphilosophen gute Bücher über Philosophen schreiben? Im Fall Nietzsches liegt ein solches Unternehmen nahe. Wie kein anderer deutscher Philosoph hat er, kaum war er verrückt, kaum war er tot, Intellektuelle, Schriftsteller und Künstler beeinflusst. Sie eilten nach der Lektüre nicht zur nächstgelegenen Universität, um zu fragen, ob ihre Ansichten denen der philosophierenden Philologen entsprachen.
Nietzsche zu lesen ist eine wilde Erfahrung, die bodenständig bleibt, solange sie mit den persönlichen intellektuellen Beständen der Lebensbewältigung konfrontiert wird. Zum Wissenserwerb im abgehobenen Dachgeschoss taugt er nicht. Sue Prideaux gehört nicht zur Klasse der akademischen Philosophen, sie ist ein Augenmensch. Sie hat Biographien über August Strindberg und Edvard Munch geschrieben und weiß, was es bedeutet, dem, was keinen Namen, keinen Begriff verträgt, einem ganzen Leben und seinem Werk, zu einer eigenen Sprache zu verhelfen. Nietzsche nennt sie gerne den Philosophen des Vielleicht, das heißt, er denkt für sich, nicht für andere, weil die Folgen, die sich aus der Lektüre seiner Schriften ergeben, nur mit den eigenen Kräften getragen werden können.
In diesem Buch ist der Horizont hinter Nietzsche frei von Ehrfurcht, die Luft nicht zum Frösteln. Kleine weiße Wolken, die schnelle Schatten zum erholsamen Nachdenken und stimmungsreiche Bewegung für das Gemüt spenden, laufen über einen blauen Himmel. Sue Prideaux hat ein starkes Gefühl für die Proportionen und Gangarten ihrer Erzählung, für Gedanken, die zugängliche Seiten zeigen und nicht wie Steine im Weg liegen, und für leise vor sich hin murmelnde Details.
Nietzsches Wohnung in Basel, wo er in jungen Jahren als Professor lebte, machte einen schwerfälligen, behäbigen, alles andere als aufrührerischen Eindruck, Sofa, Sessel mit schonenden Überzügen, die Bücher aufgereiht im Regal, so wie er selbst immer korrekt und unauffällig gekleidet war, abgesehen von einer dicken grünen Brille, die er wegen seiner empfindlichen kurzsichtigen Augen trug. Ganz anders sein älterer Kollege Jacob Burckhardt, in dessen kleiner Wohnung, zwei Zimmer über einem Bäckerladen gelegen, als würde er selbst das Brot und die Brötchen backen, sich die Bücher auf einem durchgesessenen Sofa und auf dem Boden stapelten und dessen Anzug, es kümmerte ihn nicht, an manchen Stellen zerschlissen war.
Nietzsche war Klassischer Philologe, er hat Philosophie nicht an der Universität studiert. Nach Kierkegaard, der 1855 in Kopenhagen starb, formulierte er den radikalsten Einwand gegen das traditionell objektive, systematische Philosophieren, das Kant und Hegel, den er wahrscheinlich nur aus zweiter Hand kannte, bis zur Perfektion getrieben hatten.
Er war, so wie ihn diese Biographie zeigt, ein Nervenbündel mit guter Muskulatur, der in frühen Jahren Ungeheuerliches ahnte und später heftig von unsichtbaren Strömungen, Menschen, Gewitter, Gedanken, Atmosphären, in starke Schwingungen versetzt wurde. Als Kind träumte er den Tod seines jüngeren Bruders, der am Tag darauf starb. Konnte ein Mann, dem sich eine solche abgründige Erfahrung in das Lebensgefühl gesenkt hatte und der als Krankenpfleger die Schrecken des Krieges erlebte, der objektiven Wissenschaft, die stolz ihre wackeligen Gerüste auf wackelige Gesetze baute, seelenruhig in die Arme laufen und dort heimisch zu werden versuchen? Er ging, wie alle, los, ohne genau zu wissen, wohin er unterwegs war und warum.
Schopenhauers "Welt als Wille und Vorstellung" war eine Hymne auf das Mitleid und die Kunst, die das Ich aus seinen Beschränkungen befreiten. Der junge Nietzsche war hin und weg, als er das Buch las, das er zufällig bei einem Antiquar gefunden hatte. Sein Herz hing an der Musik, er spielte Klavier, improvisierte und komponierte, nicht immer zum Glück der anderen. Als Schriftsteller besaß er einen hohen Sinn für den Stil, den Klang, die Tonfolge seiner Sätze. Er schrieb seine Bücher in immer kürzeren Aufwallungen. Die Welt schlief, die Zeitgenossen waren überfordert und kamen seiner Produktion nicht hinterher. Die Verkaufszahlen waren eine Katastrophe.
Nach der Baseler Professur führte Nietzsche das Leben eines Nomaden, er wanderte mit den Jahreszeiten zwischen Genua, Nizza, Sils Maria und Turin hin und her. Kant und Hegel dachten für alle, die bei Verstand waren, das heißt für alle, die geordnete, sesshafte Gedanken mochten. Nietzsche liebte wendige Aphorismen. Diese Form entsprach seiner Arbeitsweise, dem Denken und Schreiben an frischer Luft, an Seen, im Gebirge.
Sue Prideaux folgt ihm chronologisch, ohne in den langweiligen, schwerfälligen Gang derer zu fallen, die das Pensum der Stadien von Kindheit, Jugend, Reife, Alter abarbeiten. Sie ist eine lebhafte Begleiterin, sie eilt ihm aufgeregt einen Schritt vorneweg oder nachfragend hinterher, um Geschichten herbeizutragen oder Verläufe vorzubereiten, sie schaut ihn erstaunt von der einen oder nachdenklich von der anderen Seite an, wenn Einwände drohen oder zwei, drei andere Stimmen, Cosima Wagner, Lou Andreas-Salomé, zu Wort kommen sollen. Wie hätte der große Nietzsche, der Freunde suchte, die Freundin Sue Prideaux, die, im guten Gefühl und im sicheren Abstand ihres eigenen Lebens, beherzt und aufmunternd auf ihn zuging, mit der Absicht, zu verstehen, was mit ihm los war, was er erlebt hatte und welchen Gedanken er nachhing, einschüchtern können?
Unklar und nicht zu entscheiden ist, was zuerst da war, die Krankheit, anhaltende Leiden, Schmerzen und diverse Beschwerden, eine vererbte Disposition, oder die geistige Unruhe, die Suche nach einem anderen, dem wahren Selbst, das bei ihm Dimensionen annahm, die weit über das Maß der späteren Psychologie des Selbst hinausgingen. Er hoffte, sich von der Familie zu befreien, von der Last der wissenschaftlichen Bücher und erlöst zu werden von den Traditionen und Konventionen einer Welt, die von Maschinen und Massen, Politik und Presse überwältig wurde und nur vor den halbblinden Augen und den dicken grünen Brillengläsern sich langsam auflöste.
Sue Prideaux gießt leichten Spott aus über der Schwester, die mit Lug und Trug erst eine deutsche Kolonie in Paraguay, dann den Nachlass ihres Bruders verwaltete. Es sieht so aus, als sei er sich selbst, allen psychischen und intellektuellen Anstrengungen zum Trotz, nicht entkommen. Sein letztes Jahrzehnt musste er zu Hause in der Obhut seiner Mutter verbringen. Unter seiner Liebe zum Schicksal, seinem Amor Fati, versteckte sich auch das Bekenntnis einer fatalen Niederlage, der gescheiterten Sehnsucht nach Erlösung von alten Zwängen.
Der Körper des Philosophen, Gehirn, Darm, Magen, Nerven, ließ seinen Geist aufhorchen und brachte das Allgemeine und Feste der intellektuellen Welt, Begriffe und Urteile, ins Wanken. Und umgekehrt lauschte sein Geist, Eindrücke, Erfahrungen, Vorstellungen, Ideen, dem gesunden und schwachen, dem starken und verwundeten Körper Geheimnisse und Gespenster ab über Moral, Instinkt, Wert und Wahrheit. Nietzsche hat Geist und Gefühl vereint, wie ein Dichter, wie ein Musiker. Sue Prideaux beschreibt sein Leben, ein Drama aus Erschütterung und Euphorie, als sei es ein schwungvolles Geflecht aus komplementären Farben und sich ergänzenden Formen, von lichten Perspektiven und dunklen Annäherungen, und kein festes graues Raster, kein eckiges Muster aus Wissen und Forschung. Diese Entscheidung für die Fläche, des Augenscheins, der Augenhöhe, des Augenmaßes, bietet sehr gute Voraussetzungen für eine erste Bekanntschaft mit einem schwierigen Menschen.
Auf keiner Seite des Buches setzt sich der Eindruck durch, es würde nur einen Nietzsche geben. Die Erfahrung von den unterschiedlichen Gesichtern der Dinge, der Ereignisse und der Menschen durchdrang sein Denken und forcierte sein Gefühl einer tiefen Einsamkeit, die nicht aufzuheben war. Schon Verwandte, Freunde und Bekannte wussten letztendlich nicht, wer er war, mit wem sie es zu tun hatten, und ihre Reaktionen auf seine Schriften, Reden und sein Auftreten waren entsprechend unterschiedlich. Er existierte in mehreren Ausführungen.
Der dänische Literaturkritiker Georg Brandes prägte über Nietzsches Wille und Werk das Wort vom aristokratischen Radikalismus, das den Philosophen sofort glücklich machte. Sue Prideaux hat sich für eine radikal anti-aristokratische Biographie entschieden. Hier denkt, hier schreibt eine Kunstverständige, der Welt und Menschen nicht in Worte zerfallen, die keine fremden philologischen Innenwelten kapert, sondern sich, mit der nötigen Umsicht und Vorsicht, darauf verlässt, erzählen zu können, was sie sieht, und das heißt, was ihr als Geste, Gestalt und Gruppe, als Blick, Bewegung und Raum auffällt, und was sie ohne begrifflichen Leerlauf, ohne Anleihen in fremden Archiven versteht, so dass ein vitales Bild entsteht, die Ahnung von einem Leben. Die 500 Seiten vergehen wie im Flug.
EBERHARD RATHGEB
Sue Prideaux: "Ich bin Dynamit: Das Leben des Friedrich Nietzsche", übersetzt von Thomas Pfeiffer und Hans-Peter Remmler, Verlag Klett-Cotta, 560 Seiten
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