Besprechung vom 08.07.2018
Die Verzauberung der Welt
Die Ferien sind da, und wer verreist oder daheim bleibt, sollte immer ein Buch zur Hand haben. Eine Auswahl der besten Urlaubslektüre
von Tilman Spreckelsen.
Die Augen der Tarantel.
Wenn jemand einen Klassiker geschaffen hat, ein Buch, das funkelnd vor Originalität und Witz mühelos die Zeiten überdauert, dann kann es eine zweischneidige Sache sein, wenn er für ein neues Projekt zu diesem Klassiker zurückkehrt und etwas vorlegt, das man für eine Variation halten könnte.
Nadia Buddes "Eins Zwei Drei Tier" von 1999 ist solch ein Klassiker, und Budde, die seither eine ganze Reihe von großartigen Büchern publiziert hat, welche sich immer weiter von jenem Erstling entfernten, kehrt nun mit "Eins Zwei Drei Vampir" zurück zum Prinzip ihres Erfolgsbuchs: Drei Bilder variieren ein Prinzip, dann stößt ein Reimwort die Tür zu einem neuen Schema auf, und alles geht von vorn los. Da sind etwa drei Krokodile und ihre Zahnpartien, "mit Lücken", "mit Gebiss", "mit Spange", und darauf reimt sich "Schlange" - nur dass es in diesem Buch um ein leichtes Gruseln geht, der titelgebende Vampir verpflichtet schließlich, und das steht der Sache entschieden gut.
Dass Budde eine Ausnahmeerscheinung unter den Illustratoren ist, beweist sie hier übrigens auch - hat man je so hinreißende Taranteln gesehen?
Nadia Budde: "Eins Zwei Drei Vampir". Peter Hammer Verlag. 20 S., 13 Euro, ab 3 Jahren.
Im Spiegel eines Entenlebens.
Kinderbücher zum Tod gibt es viele, keines ist so schön und tröstlich wie dieses, und keines ist dabei zugleich so konsequent: Denn die Geschichte von der Ente, die den Tod zwar auf einmal um sich sieht, an das eigene Ende aber nicht glauben mag, erzählt von uns und zugleich über unser Leben hinaus. Die Ente jedenfalls wird irgendwann ganz sanft vom Tod in den Arm genommen, sie gleitet davon, aber der Tod bleibt da.
Wolf Erlbruch hat den Text dieses Buchs verfasst und die Bilder gezeichnet und als Collagen geklebt, er hat eine Einheit zwischen beidem gestiftet, die ohne dramatische Überhöhung auskommt. Genau deshalb möchte man dieses ausgesprochen schöne Buch immer in der Nähe haben. Der Tod ist es ja auch.
Wolf Erlbruch: "Ente, Tod und Tulpe". Kunstmann Verlag. 32 S., 14,90 Euro, ab 5 Jahren.
Natürlich spielst du mit uns Ball.
Cäcilie erzählt ihre Geschichte, wie es ist in der Schule, wenn man wegen einer schiefen Hüfte nicht am Sport und wenig an den Spielen auf dem Schulhof teilnimmt, wenn man mit einer wenig konzilianten Schwester geschlagen ist und mit einer alleinerziehenden Mutter, die sich Sorgen um das Geld machen muss, das der Familie zur Verfügung steht.
Noch mehr erzählt Cäcilie, etwa von der sportlichen neuen Schülerin Melody in der Klasse, die sich ausgerechnet sie, Cäcilie, zur Freundin erwählt, und was das bedeutet. All das steht in "Wozu hat man eine Freundin?" von Rose Lagercrantz, einem Buch, dem der Handel ein "Erstleser"-Etikett verpasst und das doch so gar nichts mit den vielen uninspirierten, kümmerlichen Texten zu tun hat, die man in diesem Segment findet. Statt dessen erzählt die Autorin - neben und manchmal auch gegen Cäcilies Stimme - von einer Freundschaft, die zwei sehr unterschiedliche Menschen verbindet und die Cäcilie nicht wenig abverlangt, vor allem nämlich, mit dem Drängen der optimistischen Melody klarzukommen, die Cäcilie unbedingt zur Fußballerin machen will, und zugleich mit den Ängsten ihrer Mutter, die ihre Tochter bei einer früheren Operation zur Hüftbegradigung fast verloren hätte.
Und Cäcilie? Sie entscheidet sich, trotz aller Angst, für eine weitere Operation. Und dafür, sich endlich mit der Leerstelle zu beschäftigen, die ihr Vater hinterlassen hat, als er zu seiner neuen Freundin gezogen ist. Auch deshalb legt man das Buch mit einem Hochgefühl zur Seite.
Rose Lagercrantz, Karen Krings: "Wozu hat man eine Freundin?". Moritz Verlag. 104 S., 11,95 Euro, ab 6 Jahren.
Achtung, Irre auf dem See!
Dass Nachhausekommen manchmal gefährlich, anstrengend und langwierig sein kann, wissen wir seit der Odyssee. Was aber passiert, wenn sich dieses Muster mit der Phantasie eines Jungen verbindet, der seinen Heimweg von der Schule antritt, zeigt der niederländische Autor Simon van der Geest in seinem Kinderbuch "Dysseus".
Es erzählt einmal vom alltäglichen Weg mit dem Bus durch Wohnviertel, vorbei an Baustellen oder einem See, und es erzählt von plötzlichen Gefahren, wie sie nur das Auge dessen sehen kann, der noch nicht abgestumpft ist durch die tägliche Wiederholung: Da lauern Monster in Gestalt von Baumaschinen, Landwirte trachten den Schülern nach dem Leben, und als es die Kinder dann auf eine Flotte von Schlauchbooten verschlägt, sind Wahnsinnige zur Stelle, die diese zum Kentern bringen.
Natürlich schrumpft die Zahl der Gefährten ständig, schließlich erging es Odysseus einst nicht anders; umgekehrt kennt jedes Kind, das gemeinsam mit anderen in der Schule aufbricht, um nach Hause zu gehen, dieses Ausdünnen im Verlauf der Strecke, bis es die letzten Schritte allein macht.
Der Autor jedenfalls blendet beide Ebenen auf das allerschönste ineinander über. Und er wählt für seinen Text die Form des Langgedichts. Dass das auch im Deutschen so herrlich unangestrengt daherkommt, ist der Übersetzerkunst Rolf Erdorfs geschuldet.
Simon van der Geest: "Dysseus". Mit Bildern von Jan Jutte. Thienemann Verlag, 128 S., 12,99 Euro, ab 8 Jahren.
Irgendwo wartet die Zarentochter.
Ein Taugenichts ist dieser Wanja, ganz klar, oder wie soll man einen nennen, der in seiner Jugend jahrelang auf der Ofenbank liegt und Sonnenblumenkerne kaut? Dann aber ist der Tag gekommen, an dem Wanja genug Kraft gesammelt hat für das, was ihn draußen erwartet, auf dem Weg zum Zaren nämlich, der sich in größter Not befindet, und auf dem Weg zur Zarentochter.
Otfried Preußler, der Jahre in russischer Kriegsgefangenschaft verbracht hat, erzählt "Die Abenteuer des starken Wanja" nach alten russischen Märchenmotiven. Und er verleiht diesem Stoff eine sehr eigene Färbung. Die Faszination des Autors für das, was er vorgefunden hat, ist gleichwohl spürbar, am deutlichsten vielleicht für die herrliche Gestalt der Babajaga, der Hexe des russischen Märchens, und wenn er nach dem siegreichen Kampf Wanjas davon erzählt, wie sich der Held den Listen der Babajaga entzieht, die ihm das falsche Pferd unterjubeln will, dann zieht Preußler alle Register.
Im selben Atemzug aber zeichnet er seinen Wanja als Suchenden, dem gar nicht so viel daran liegt, seine gewaltige, auf der Ofenbank erworbene Körperkraft zu seinen Gunsten einzusetzen. Stattdessen fragt sich der Held, was er tun muss, um den Zaren, den er in einer seltsamen mystischen Begegnung gesehen hat und dem er verdankt, was er nun ist, zu erlösen.
Otfried Preußler: "Die Abenteuer des starken Wanja". Thienemann Verlag, 32 S., 12,99 Euro, ab 8 Jahren.
Ab heute heiße ich Marie.
Wenn eine Rumpffamilie mit jedem Umzug immer etwas tiefer rutscht, wenn die Wohnungen immer schäbiger werden und alles andere auch, wenn man sich am Ende in einem Abbruchhaus und in zweifelhafter Nachbarschaft wiederfindet, dann ist es schwer, sich nicht darein zu fügen oder sich vorzumachen, man ziehe für sich das Beste aus der Situation.
Die fünfzehnjährige Corinna, die Erzählerin in Susanne Fischers Jugendroman "Wolkenkönigin", findet sich nicht damit ab. Sie beschließt, den Neuanfang zu nutzen, und ändert als Erstes ihren Namen in "Marie". Wie sie in der neuen Schule zurechtkommt, wie beglückend und zugleich gefährlich ihr Spiel ist, wie sie schließlich zu einem Jungen findet, dem es ähnlich geht und wie die fragile Situation schließlich eskaliert, schildert Fischer so einfühlsam wie spannend.
Susanne Fischer: "Wolkenkönigin". Rowohlt Verlag, 224 S., 12,99 Euro, ab 14 Jahren.
Ein letztes Wochenende.
Die Blicke der Eltern sind besorgt, und sie ruhen auf Annika, der großen Schwester: "Du passt auf, ja?", sagen diese Blicke, "und dass sie ja nicht zu Orgie / Naturkatastrophe / Rave / Super-GAU heimkehren wollen". Wahrscheinlich würden die Eltern, als sie nach der Geburtstagsfeier des Sohns dann tatsächlich wiederkommen, das, was sie finden, sogar gern gegen die Spuren einer Orgie eintauschen.
Am Ende der Party nämlich lädt der eben volljährig gewordene Ben seine bedröhnte Schwester in ein Auto und fährt mit ihr aufs Land, dorthin, wo sie früher im Haus der Großeltern ihre Ferien verbracht haben. Das Haus soll verkauft werden, noch steht es leer, der Junge bricht ein, "ein letztes Wochenende", sagt er, und seine Schwester ist hin- und hergerissen zwischen dem dringenden Wunsch der Eltern, sie möge auf das Problemkind Ben achten, und ihrem Überdruss an dieser Rolle. Und so spinnt die große Erzählerin Tamara Bach ihren Geschichtenfaden ab, aberwitzig, traurig und voller Zuversicht, dass Ben und Annika es vielleicht nicht besser machen als ihre Eltern. Aber doch zumindest anders.
Tamara Bach: "Mausmeer". Carlsen Verlag, 144 S., 12,99 Euro, ab 14 Jahren.
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