Flüsse, Grenzen, Weltwissen: Was zeigen alte Landkarten wirklich?
Es war kein Abenteurer und auch kein Entdecker, der die älteste uns bekannte islamische Landkarte zeichnete: Muhammad ibn Musa al-Chwarizmi war Mathematiker, Erfinder der Algebra, Astronom und Geograph. Von ihm stammt eine Karte des Nils, deren Weltsicht so gar nicht unserem heutigen Blick entspricht.
Eine exakte Abbildung des geographischen Raums war nicht das Hauptanliegen des Kartographen. Karten waren immer ein Mittel, um die Welt zu verstehen ihre physische Gestalt, ihre Staatsgrenzen, ihre religiösen und regionalen Identitäten. Landkarten boten damals wie Kunstwerke eine vielschichtige Sicht auf die Welt, die Sie mit diesem Bildband entdecken können:
Künstler, Kalifen, Wissenschaftler: Wer erschuf die Meisterwerke der islamischen Kartographie?
Welches Wissen wollten die Kartenzeichner vermitteln? Was war der Zweck dieser Karten? Die in diesem Sachbuch vorgestellten Kartenmacher spiegeln die Vielfalt der islamischen Welt. Die meisten sind Sunniten, einige Schiiten; manche arbeiteten für Kalifen, Sultane und Schahs, während andere ihre Karten für Händler, Gelehrte und Seefahrer produzierten. Anhand ihrer Lebensgeschichte und ihrer kartographischen Meisterwerke untersucht Yossef Rapoport, Islamwissenschaftler und Historiker, islamische Weltdeutungen.
So entstehen ein pluralistisches Bild der Geschichte der arabischen Welt und ein Gegengewicht zu einem Islambild, das allein auf Rechtstexten und Koran-Auslegungen beruht. Damit eröffnen uns die Karten auch heute noch einen anderen Blick auf unsere Welt!
Inhaltsverzeichnis
Besprechung vom 12.06.2020
Ordnung kommt vor Erfahrung
Details mussten nicht sein, aber auf die Lesbarkeit für jedermann kam es an: Yossef Rapoport erzählt die Geschichte der islamischen Kartographie.
Um das Jahr 980 reiste der arabische Gelehrte al-Muqaddasi in die jemenitische Hafenstadt Aden, um Material für sein geographisches Hauptwerk "Die schönste Aufteilung, handelnd von der Kenntnis der Länder" zu sammeln. Von einem Kaufmann, dessen Handelsschiffe den gesamten Indischen Ozean befuhren, ließ er sich eine Karte dieses Meeres in den Sand zeichnen. Sie enthielt, so berichtet der Gelehrte, mehr gewundene Küstenlinien und Buchten, als je ein Kartograph zu Papier gebracht hatte. Dennoch, so al-Muqaddasi weiter, habe er darauf verzichtet, die Angaben des Kaufmanns in seiner Darstellung des Indischen Ozeans zu verwenden, da sie ihm nicht einfach genug erschienen. Seine eigene Karte zeigt etwa das Rote Meer in der traditionellen Vogelkopf-Gestalt, nicht als den unregelmäßigen Schlauch, der es tatsächlich ist. Diese Form, schreibt al-Muqaddasi, sei eben "wohlbekannt und unbestritten".
Der Londoner Historiker Yossef Rapoport zitiert diese Anekdote in seinem Buch über die Kartographie im Islam in angemessener Ausführlichkeit, denn sie veranschaulicht ein Erkenntnisinteresse, wie es für die islamische Welt des Kalifats und der Kreuzzüge charakteristisch war. Der Informationswert einer Landkarte wurde beispielsweise nicht danach beurteilt, ob sie die wirklichen Verhältnisse exakt wiedergab, sondern nach ihrer Lesbarkeit für jedermann. Auf Details konnte verzichtet werden, wenn die Grundstruktur deutlich genug hervortrat. Kartographie ist eine Erfahrungswissenschaft, aber wenn die Erfahrung den Ordnungsvorstellungen der Kartenzeichner widersprach, gaben diese der Ordnung den Vorzug.
Der schlagendste Beleg dieser Haltung ist das Kartenwerk al-Istakhris aus dem frühen zehnten Jahrhundert, in dem sämtliche Züge einer Landschaft durch Linien, Zacken, Kreise oder Halbkreise wiedergegeben werden. Auch al-Istakhri war als Reisender weit herumgekommen, aber bei der bildlichen Verarbeitung seines Wissens stand für ihn dessen mühelose und massenhafte Reproduzierbarkeit im Vordergrund. Die Vorteile dieses Prinzips erläutert Rapoport anhand der Karte des Londoner U-Bahn-Netzes, die Harry Beck 1933 entwarf und die zum Vorbild für Verkehrspläne in aller Welt wurde. Bei Beck wie bei den islamischen Kartographen ging es darum, eine überkomplexe Welt für den Betrachter gebrauchsfertig zu machen. Der arabische Kaufmann, der sich mit al-Istakhris und al-Muqaddasis Karten auf den Weg machte, konnte die Stationen seiner Reise nach den eingezeichneten Städten, Flüssen und Gebirgen planen, alles Übrige ergab sich unterwegs.
Die islamische Kartographie wird erst seit einigen Jahren systematisch untersucht. Der knappe Überblick, mit dem Rapoport den bisherigen Forschungsstand zusammenfasst, ist, um das mindeste zu sagen, faszinierend: Er zeigt, wie die Kunst des Kartenzeichnens in der arabischen Welt von ihren spätantiken Ursprüngen aus zu immer stärkerer Schematisierung voranschritt, ehe sie unter dem Einfluss Westeuropas wieder zu einer naturalistischen Weltdarstellung gelangte. Damit kehrte sie gewissermaßen zu ihren Anfängen zurück, denn der persische Mathematiker al-Khwarizmi - der Namenspate unseres Algorithmus - hatte bereits im frühen neunten Jahrhundert auf Basis der ptolemäischen Geographie ein erstaunlich realitätsnahes Bild der Erde nördlich des Äquators entworfen.
Erst durch al-Idrisi, der gut drei Jahrhunderte später für den christlichen König Roger II. von Sizilien eine Sammlung von Einzelkarten als Vorlage für eine Universalkarte schuf, die in eine zweihundert Kilo schwere Silberplatte graviert wurde, entstand wieder eine ähnlich genaue Darstellung der bekannten Welt. Auf der modernen Projektion von al-Idrisis enzyklopädischem Werk sind das westliche Mittelmeer, der Expansionsraum des sizilianischen Königreichs, und die Arabische Halbinsel sofort zu erkennen; auch die Quellen des Nils hat der Hofkartograph anhand von Reiseberichten richtig wiedergegeben. Nordeuropa und der ostasiatische Raum dagegen sind für die islamische Phantasie terrae incognitae. Das sollte sich rächen.
Das europäische Mittelalter hatte für exakte Karten keinen Sinn und kein Vermögen, seine Weltdarstellungen folgten einem simplen Kreuzkugelschema mit Jerusalem im Zentrum. Das Interesse Europas an der Kartographie erwachte erst durch den wachsenden Seehandel mit hochbordigen Segelschiffen und Magnetkompassen seit dem dreizehnten Jahrhundert. Die ersten Illustrationen in den Portolanbüchern der Seekapitäne waren Meeres-, nicht Landkarten, sie zeigten Küstenlinien und Häfen. Aber während der arabische Handel unter den Osmanen zurückging, eroberten portugiesische und spanische Segler mit ihren Bronzekanonen die südliche Erdhalbkugel, und die Kartenzeichner folgten ihnen auf dem Fuß.
Der letzte große islamische Kartograph war jener Piri Reis, der unter Sultan Selim und seinem Nachfolger Suleiman dem Prächtigen zum Schrecken der europäischen Flotten wurde, bevor ihn Letzterer wegen einer kleineren Niederlage köpfen ließ. Die Weltkarte, die er 1513 anfertigte und deren westliche Hälfte überlebt hat, ist sein bleibendes Vermächtnis. Sie zeigt Westafrika und Spanien, wie wir es kennen, und die Küste Südamerikas auf dem Stand, der zwanzig Jahre nach der Entdeckungsreise des Kolumbus erreicht war. Zugleich ist sie mit ihrem Bilderreichtum ein vollständiger Bruch mit der islamischen Bildtradition der Abstraktion. Ochsen, Affen, Papageien, Kopffüßler und ein Wal mit dem heiligen Brendan auf seinem Rücken bevölkern die Meere und Landmassen des Piri Reis. Sie bezeugen, dass die islamische Welt den technologischen und ikonographischen Vorsprung des Westens mit Leichtigkeit hätte aufholen können - wenn sie es gewollt hätte.
Zu dem Erkenntnisgewinn, den Rapoports Buch gewährt, kommt der ästhetische. Dieser Band ist ein Fest für die Augen. Wenn Galileis Planetenskizzen Kunstwerke eigenen Rechts sind, dann sind die Kompendien der islamischen Kartographen Höhepunkte eines zur Kunst gebändigten Wissens. Gerade das Standardisierte ihrer Formensprache lässt sie dem modernen Blick vertraut erscheinen. Es ist, als betrachteten wir die Netzkarte einer Welt, die es nicht mehr gibt. Oder nur noch als Bild.
ANDREAS KILB.
Yossef Rapoport: "Islamische Karten".
Aus dem Englischen von Jörg Fündling. WBG / Theiss Verlag, Darmstadt 2020. 192 S., Abb., geb.
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