Besprechung vom 04.08.2022
Die Katze, die der Jäger schoß, macht nie der Koch zum Hasen
Nicht immer ist sicher, von wem ein Strich oder eine Marginalie stammt: Stefan Höppner zeigt, wie Goethe seine Bücher sammelte, nutzte, annotierte
Goethes hinterlassene Autorenbibliothek ist mit fast achttausend Bänden recht umfangreich, ungewöhnlich geschlossen überliefert und auf Grundlage von Hans Rupperts Katalog von 1958 sogar online durchsuchbar. Für die Forschung ist das ein unersetzliches Arbeitsinstrument, denn es gibt Auskunft über Quellen, Lektüren und Verfahrensweisen des Dichters und Naturforschers. Nimmt man die ebenfalls gut dokumentierten Ausleihverzeichnisse der Bibliotheken in Weimar und Jena sowie Kalenderjournale, Tagebücher und Briefe hinzu, so lassen sich Lektüre- und Studienhorizonte ziemlich genau abstecken. Ganz gewiss kann man sich aber nur in seltenen Fällen konkreter Exzerpte, Kommentare, Anstreichungen, Marginalien oder Korrekturen sein. Goethe malte nicht in seinen Büchern herum, bestenfalls markierte oder notierte er etwas mit zartem Bleistift am Rand, in der Regel sind es nur ein paar kleine horizontale Striche.
Stefan Höppner, wissenschaftlicher Projektleiter von "Goethe digital" in Weimar, hat das jetzt alles gründlich untersucht. Sein umfangreiches Buch stellt in der ersten Hälfte die Geschichte der Bibliothek vor, die von der Familie bewahrt und schließlich in Weimar aufgestellt und katalogisiert wurde. Der zweite Teil ist systematischer Natur. Neben vielleicht allzu einfachen Fragen - Was ist eine Bibliothek?, Was ist eine Sammlung?, Was ist eine Lesespur? - werden hier die Bestände und ihre organische Entwicklung aufgrund ständiger Zu- und Abgänge, die Umstände von Erwerbungen und Schenkungen (Widmungsexemplare), Provenienzen (es gibt Titel aus dem Besitz von Gryphius oder Leibniz) und exemplarische Analysen von Bearbeitungsspuren untersucht. Während in Schillers Nationalausgabe oder in der gerade abgeschlossenen Hofmannsthal-Edition Handbibliotheken oder Kalenderjournale im letzten Band erfasst und damit dem Werk beigestellt werden, ist das im Falle Goethes trotz vieler Gesamtausgaben nicht üblich. Umso wichtiger ist jetzt Höppners digitale wie inhaltliche Erschließung.
Goethes Autoren- und Arbeitsbibliothek ist kein homogenes Gebilde. Sie enthält auch Bücher des Vaters Johann Caspar, des Sohnes August, der Schwiegertochter Ottilie oder des Enkels Wolfgang Maximilian; von Frau Christiane gibt es nur einen "Schreib-Kalender" und ein Widmungsexemplar des Herzogs. Etwa zehn Prozent des Bestandes aus Goethes Todesjahr fehlen, weitere zehn Prozent entfallen auf noch nicht aufgeschnittene Bände. Aus dem 18. Jahrhundert stammt nur ein Viertel der Bücher, außer deutschsprachigen sind lediglich lateinische und französische (je 10 Prozent) sowie italienische und englische Titel (zusammen 6 Prozent) nennenswert vertreten. Den größten Anteil beanspruchen die Naturwissenschaften und Mathematik (1900 Einheiten), gefolgt von Archäologie und Kunstgeschichte sowie der deutschen Literatur.
Besonders interessant ist die Aufstellung eigener Werke nebst der Sekundärliteratur. Hier finden sich auch signifikante handschriftliche Korrekturen, etwa in der Werkausgabe von 1815. So heißt es im Gedicht "Katzenpastete" sinnwidrig: "Die Katze, die der Jäger schoß, / Macht mir der Koch zum Hasen". In der Ausgabe letzter Hand ist das irrige "mir" in "nie" korrigiert. Nicht immer kann man sicher sein, ob ein Strich oder eine Marginalie wirklich von Goethes Hand stammt. Bei Immanuel Kant ist das aber der Fall. Vor der "Kritik der reinen Vernunft" kapitulierte Goethe, wie später Musils Törleß, aufgrund von "Dichtungsgabe" und "Menschenverstand" - "ins Labyrinth selbst konnt' ich mich nicht wagen", erklärt er lapidar. Doch die "Kritik der Urteilskraft" ackerte er durch, die Lektüre fiel in eine "höchst frohe Lebensepoche". Hier stellt er auch eigene Gedanken an, wenn Kant etwa auf S. 412 über ein "moralisch-gesetzgebendes Wesen außer der Welt" nachdenkt, fügt Goethe hinzu: "Gefühl von Menschen objectivirt = Gott".
Solche aufschlussreichen Details, die bereits Geza von Molnár herausarbeitete, bilden die Ausnahme in Höppners Buch. Er erzählt vielmehr sehr ausführlich die Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte von Goethes Bibliothek. Jede handschriftliche oder auch in Kupfer gestochene Widmung, wie in Alexander von Humboldts Pflanzengeographie von 1807, ist ihm eine kleine Geschichte wert. So lassen sich internationale Netzwerke entfalten und anhand von Karten schön visualisieren. Große Überraschungen für die Werkgenese oder eine intensive Auseinandersetzung Goethes mit anderen Autorinnen und Autoren hält Höppners buchgeschichtliche und systematische Erschließung dieser ungewöhnlich gut erhaltenen Sammlung aber nicht bereit. Sein Buch bleibt ein solides Hilfsmittel. ALEXANDER KOSENINA
Stefan Höppner:
"Goethes Bibliothek".
Eine Sammlung und ihre Geschichte.
Verlag Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 2022. 503 S., Abb., geb.
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