Wellenflug, Familienroman von Constanze Neumann, 336 Seiten, erschienen im Ullstein-Verlag.
Ein feinfühliger Roman über zwei ganz unterschiedliche Frauen einer Familie, zwei Leben reich an Liebe und Verlust in einem Jahrhundert voller Extreme.
Anna Reichenheim, die Tochter eines jüdischen Tuchhändlers ist von ihrem Sohn Heinrich, der 1881 geboren wird, enttäuscht. Soviel Hoffnung sie in ihn auch setzte, anstatt sich an die Verhältnisse seiner großbürgerlichen jüdischen Familie anzupassen, schlägt er immer wieder über die Stränge. Er ist ein Spieler und erliegt den Verlockungen des Berliner Nachtlebens. Zum Unmut seiner Familie verliebt er sich auch noch in Marie, ein Mädchen aus ärmsten Verhältnissen. Der erste Teil des Romans behandelt das Leben von Anna, ihrer vornehmen behüteten Kindheit und ihrem Leben an der Seite ihrer beiden Ehemänner.
Der zweite Teil beschreibt die Lebensgeschichte von Marie, der ungewollten Schwiegertochter, die Heinrich m. M. nach, jedoch vom totalen Untergang bewahrte. Als Heinrich enterbt wird, wandern die beiden zunächst nach Amerika aus. Doch zu Beginn des ersten Weltkriegs zieht es Heinrich zurück nach Deutschland um für sein Vaterland zu kämpfen. Nach dem Krieg lassen sich Marie und Heinrich in Dresden nieder doch Heinrich hat es nie geschafft, eine Anstellung länger zu behalten, es geht immer weiter abwärts. Was in den folgenden Jahren zwischen den Kriegen und auch während des Nationalsozialismus geschieht ist in diesem Familienroman unglaublich ergreifend geschildert. Constanze Neumann hat hervorragend recherchiert, um die Geschichte ihrer Familie in Romanform zu erzählen. Akribisch hat sie die wenigen Fotos, Daten, Briefe und Zeitungsartikel zusammengetragen um Anna und Marie wieder lebendig werden zu lassen, sie vor dem Vergessen zu retten.
Der Roman besteht aus 40 Kapiteln in zwei Teilen, jeder Teil einer der beiden Frauen gewidmet. Die Teile sind mit Jahreszahlen gekennzeichnet. Im Kapitel "Später", am Ende des Romans, schließt sich der Kreis und die weiteren Schicksale der Familie bis in die Gegenwart werden geklärt. Zu Anfang hatte ich Mühe in Lesefluss zu kommen, zu viele Namen und Familienzusammenhänge die sich kompliziert gestalteten. Neumann hat den auktorialen Erzählstil gewählt und gewährt dadurch vollständigen Überblick über die Geschehnisse. Der zweite Teil Marie gewidmet, hat mich gepackt und mitgerissen, ich habe bis in die Nacht gelesen, bis der Schlusspunkt gesetzt war.
Die emotionale Spannung war enorm hoch, ich habe mit der Protagonistin mitgefiebert und mitgelitten. Anna wohl durch ihre Erziehung, eine distanzierte und harte Frau, habe ich nicht immer verstanden, dass sie ihren Enkel Heinz nie sehen wollte konnte ich nicht nachvollziehen, auch Marie hat sie zeitlebens nicht verziehen, obwohl diejenige m. E. der rettende Anker für Heinrich war. Marie dagegen habe ich direkt ins Herz geschlossen. Tatkräftig und klug und stets Heinrichs Eskapaden verzeihend, hat sie an seiner Seite bis zum Ende ausgehalten. Obwohl aus ärmlichsten Verhältnissen war sie des Namens Reichenheim immer würdig. Feinfühlig, flüssig, spannend und bildmalerisch erzählt die Autorin ihre Familiengeschichte in diesem opulenten Roman.
Eine Leseempfehlung für die Fans von historischen Familiengeschichten mit authentischem Hintergrund. Von mir wegen der Schwächen im ersten Teil 4 Sterne.