Besprechung vom 20.09.2020
Neues Reisebuch: Mit offenen Ohren durch Berlin
Für die Tasche "In der Musik der Tiere habe ich immer eine Gewissheit gefunden, die der Kreativität des Menschen naturgemäß fehlt", schreibt David Rothenberg in seinem Buch "Nachtigallen in Berlin", das in einer lauen Mainacht im Treptower Park beginnt. Wer nun aber denkt, der Autor lässt die Vögel auf den folgenden Seiten seines Buches mit dieser Gewissheit singen, irrt. Der amerikanische Philosoph und Klarinettist zwingt sie ins Duett.
Rothenbergs Begeisterung für "speziesübergreifende Musik" begann, als er als Teenager mit der Gruppe "Winter Consort" in Berührung kam, die im Wald in einer Kommune lebte und mit Vögeln und mit Wölfen Musik machte. Er wollte mitspielen, sie schickten ihn fort, er möge seinen eigenen Weg finden. Den fand er, und dabei auch Vögel, Wale, Insekten und eine akademische Karriere, die es ihm erlaubte, weltweit zu den Themen Klang und Kommunikation zu lehren und zu forschen. In Helsinki hörte er 1998 zum ersten Mal in seinem Leben eine Nachtigall. Seit 2016 musiziert er jeden Frühling mit ihnen - in Berlin, denn in den Vereinigten Staaten gibt es keine.
Von allen europäischen Städten ist Berlin die mit den meisten Nachtigallen, und auch die mit den meisten Nachtigallenforschern. Rothenberg verschweigt nicht, dass er denen gelegentlich auch auf den Sender gegangen ist. Allein im Treptower Park besiedeln einige Dutzend Nachtigallenmännchen jedes Jahr ihr Revier und singen von Ende April bis Ende Mai, dann nisten sie. Und tatsächlich hörte man sie während des Lockdowns überall, in den Parks, in stillen Wohnvierteln, aber auch an Kreuzungen, als wären sie im Wettstreit mit dem Verkehr.
Ihr Lied sei "eine fremdartige Musik, der Groove einer anderen Spezies", schreibt Rothenberg. Wer jemals eine Nachtigall gehört hat, weiß, dass ihre Weise nicht besonders melodisch ist, dafür aber kraftvoll, unregelmäßig, seltsam perfekt, und vor allem unnachahmbar. Nur ist das Musik, was sie von sich gibt? Oder ist es nur "wie Musik" für uns Menschen? Natürlich könne man letzten Endes nicht wissen, wie es ist, eine Nachtigall zu sein, gibt Rothenberg zu, was ihn aber nicht davon abhält, die Welt sehend, hörend und spielend erfassen zu wollen, als wäre er eine. Nur vielleicht gefällt sein Spiel den Nachtigallen gar nicht? Vielleicht hassen sie Klarinetten und antworten ihm seit Jahren auf Nachtigallisch: "Geh weg. Geh weg. Geh weg"? Würde der Vogel die Klarinette unterbrechen, wäre das wohl ein Anzeichen für Missfallen. Würde er abwarten und antworten, sei das möglicherweise Freundlichkeit. Ignoriere der Vogel die menschliche Musik, demonstriere er damit seine Überlegenheit.
"Einige Menschen sind sauer auf uns, wenn wir mit einer Nachtigall Musik machen. Einmal sind sie aus ihren Wohnungen runter auf die Straße gekommen und haben uns gesagt: ,Diese Nachtigall hat so schön gesungen, bis ihr hier aufgetaucht seid!'", erklärte Rothenberg neulich dem Deutschlandfunk. Vielleicht hätte er den Anwohnern, die sich beschwert haben, seine Elf-Punkte-Anleitung geben sollen, damit auch sie der Tiermusik näherkommen können:
- Vergessen Sie den Namen des Vogels.
- Werden Sie selbst ein namenloser Vogel.
- Wenn ein Erlebnis mit der Musik Ihres Vogels Ihre Musik nicht verändert hat, probieren Sie etwas Neues aus.
- Sie sind nicht der Mittelpunkt.
- Es ist die älteste Musik der Welt. Lernen Sie von ihr.
- Sie ist unbegreiflich.
- Alle Töne sind relevant.
- Spüren Sie ihre Kraft und Freude.
- Hüten Sie sich vor Loops und Basslines (sich wiederholenden Klängen).
- Es ist unser Wesen zu singen.
- Wir sind überflüssig, aber wenn wir uns Mühe geben, schaffen wir vielleicht Musik, die relevant ist.
Wer Rothenbergs Forschung folgen mag, den nimmt er mit auf eine facettenreiche Reise in die Sphären der Klangsammler und Klangforscher, der Sinuskurven, der Wahrnehmungsexperimente, der Naturmusik, der Dichter und Vogelfans, der Performances, der Bücher im Eigenverlag, der Freiflächen und der vielen Avantgardekünstler, die in Berlin eine Heimat gefunden haben wie Korhan Erel, Cymin Samawatie, Techno-Pioniere und andere Vögel, wie etwa Amseln.
"Die besten Jazzmusiker sind für mich die, die man nicht nachahmen kann", sagt Rothenberg an einer Stelle, und man begreift, warum es ausgerechnet Nachtigallen sein müssen, mit denen er spielen will. Denn auch wenn die Titelhelden des Buches (Nachtigallen und die Stadt Berlin) häufig vor seinen Ausführungen zurücktreten müssen, ist "Nachtigallen in Berlin" schlussendlich ein Buch über das Geheimnis der Originalität.
Arezu Weitholz
David Rothenberg, "Stadt der Nachtigallen", aus dem Englischen von Silvia Morawetz. Rowohlt, ca 250 Seiten. 26 Euro.
Zu dem Buch ist eine Website erschienen, auf welcher der Autor viele Klangbeispiele und Videos und Fotos zur Verfügung stellt. www.nightingalesinberlin.com
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