Die Welt der russisch-jüdischen Familie aus Hamburg, um die es in Maxim Billers neuem Roman Mama Odessa geht, ist voller Geheimnisse, Verrat und Literatur. Wir hören aber auch ein kluges, schönes und wahrhaftiges Hörbuch über einen Sohn und eine Mutter, beide Schriftsteller, die sich lieben, wegen des Schreibens immer wieder verraten - und einander trotzdem nie verlieren.
Mit beeindruckender Leichtigkeit spannt Maxim Biller einen Bogen vom Odessa des Zweiten Weltkriegs über die spätstalinistische Zeit bis in die Gegenwart. Alles hängt bei der Familie Grinbaum miteinander zusammen: das Nazi-Massaker an den Juden von Odessa 1941, dem der Großvater wie durch ein Wunder entkommt, ein KGB-Giftanschlag, der dem Vater des Erzählers gilt und die Ehefrau trifft, die zionistischen Träumereien des Vaters, der am Ende mit seiner Familie im Hamburger Grindelviertel strandet, wo nichts mehr an die jüdische Vergangenheit des Stadtteils erinnert - und wo er aufhört seine Frau zu lieben, um sie wegen einer Deutschen zu verlassen. Dennoch scheint ständig ein schönes, helles Licht durch die Zeilen dieses oft tieftraurigen, außergewöhnlichen Buchs.
Mama Odessa ist ein literarisches Meisterstück von größter Präzision und poetischer Kraft, wie es auf Deutsch nur selten gelingt.
Besprechung vom 20.08.2023
Rückkehr nach Odessa
Maxim Biller wollte nach dem russischen Angriff auf die Ukraine kein Schriftsteller mehr sein. Nun erscheint ein Roman, den er kurz vor dem Krieg beendet hat. Und der beweist, dass Literatur nicht vergeblich sein muss.
Von Julia Encke
Wenn es zwei Maxim Biller gibt, den Kolumnisten, der in seinen Interventionen genauso routiniert Kollegen beleidigt, wie er seine Freunde umarmt; und den Schriftsteller, der eher zurückgenommen, oft ironisch und präzise beschreibt, was er beobachtet - dann war es der Schriftsteller Biller, der im März letzten Jahres in der "Zeit" behauptete, dass er angesichts des Angriffs Russlands auf die Ukraine keiner mehr sein wolle (und dabei Juli Zeh, Christa Wolf und Scholochow als "Propagandaschriftsteller" beschimpfte). Wer in einem solchen Moment der Weltgeschichte so mechanisch weiterarbeiten könne wie davor, schrieb er, sei gar kein richtiger Schriftsteller und werde es auch nie sein - außer er sitze selbst im Licht seines iPhones in einem Keller in Kiew oder Lemberg. Denn er habe nicht das Wichtigste: "Mitgefühl - und die Fähigkeit, sich zu Tode zu erschrecken und etwas anderes zu sehen als immer nur sich selbst".
Und er lebe in einer Gegenwart ohne Vergangenheit. Die Vergangenheit aber, schrieb Biller in diesem für sein Werk so wichtigen poetologischen Text, habe ihn selbst überhaupt erst zum Schriftsteller gemacht. Eine totalitaristische Vergangenheit; die Gespräche über den Zweiten Weltkrieg, den Holocaust und die Lager, die den 1960 Geborenen seit seiner Kindheit umgaben; das Erlebnis des Prager Frühlings und die Angst, auf dem Schulweg "von einem russischen Soldaten erschossen oder von einem T-34-Panzer wie eine Ameise überrollt zu werden"; die Emigration nach Deutschland. In der Hoffnung, schreibend das Totalitäre abzuwehren, sei er zum Autor geworden, so Biller. Nicht indem er Menschen beschreiben wollte, wie sie sein sollten (wie es die "Propagandaschriftsteller" taten), sondern wie sie sind und waren, "sich wehtun und es bereuen, wie sie sich gegenseitig verraten und selbst am meisten darunter leiden". Jetzt aber sei der Krieg zurückgekehrt, es sei wieder passiert - alles Schreiben sinnlos und umsonst.
Dass er kurz vor dem Ukrainekrieg noch ein Buch fertiggeschrieben hatte, stand auch in dem Text. Ein Roman, der jetzt unter dem Titel "Mama Odessa" erschienen ist - und trotz des Namens der ukrainischen Stadt im Titel auch nachträglich nicht auf das Bezug nimmt, was sich während der vergangenen Kriegsmonate dort abgespielt hat, sondern auf eine totalitäre Vergangenheit davor. Und auf diese Weise, ohne es beabsichtigt zu haben, vorführt, dass Literatur nicht vergeblich sein muss, wenn alles zu spät zu sein scheint, weil sie - wie hier - den Lügen, den propagandistischen Umschreibungen und Verfälschungen von Geschichte auf der einen und der Ahnungslosigkeit auf der anderen Seite immerhin die Verständigung über die Vergangenheit entgegensetzen kann.
"Odessa" ist in Billers neuem Roman eine Chiffre für etwas Verlorenes, ein Sehnsuchtsort, eine Empfindung von Zugehörigkeit. "Wir hätten in Odessa bleiben sollen", sagt die Mutter des Erzählers, Aljona Grinbaum, zu ihrem Sohn Mischa am Telefon, bevor sie beide auflegen. "Dort ging es dir wirklich viel besser." "Meinst du?", fragt Mischa. "Ja, natürlich", sagt sie, "und mir auch. Mir sowieso. Ich bin sicher." Aber warum, fragt sich der Erzähler etwas später, war keiner von ihnen, nicht der Vater, nicht die Mutter, nicht er selbst, jemals wieder nach Odessa gefahren, wenn es ihnen in Deutschland so wenig gefiel? Warum blieben die Eltern in Hamburg, wo sie hingekommen waren, ohne je wirklich anzukommen? Die Mutter mit einem schlechten Gewissen, ihren eigenen Vater in Odessa nicht begraben zu haben; der Vater, der die Mutter für eine "Nazihure" verlassen sollte, mit dem unerfüllten Wunsch, nach Israel zu gehen; und er selbst, der Berlin manchmal lieber wieder gegen München und eine Zeit lang auch gern gegen Tel Aviv getauscht hätte?
Und nicht nur sie selbst kommen nicht an, ihre Briefe tun es auch nicht. Oder werden nicht mal abgeschickt. Damit jedenfalls beginnt der Roman, in dem Mischa nach dem Tod der Mutter in ihrem Schlafzimmersekretär einen an ihn adressierten und frankierten Brief entdeckt, den sie dreißig Jahre zuvor geschrieben hat, da war er 26; einen Brief, in dem sie ihm sagt, wie sehr es sie quälte, vor dem Tod ihres Vaters nicht nach Odessa geflogen zu sein. Dass das gar nicht ging, weil sie zu dritt die Sowjetunion vor den meisten anderen Juden bereits Anfang der Siebzigerjahre verlassen hatten und daher auch nicht mehr zurückkonnten, musste ihr eigentlich klar gewesen sein. Dass sie ihn, ihr Kind, damit zurückgelassen hätte, auch. Trotzdem bereute sie es. So wie er es jetzt bereut, dass er sich von ihr den anderen Brief nicht hat zeigen lassen, den der armenische Großvater an ihn, Mischa, geschrieben hatte und den die Mutter ihm immer hatte vorlesen wollen. Der scheint im Sekretär jetzt nicht mehr zu finden zu sein.
Maxim Biller rollt von diesen beiden nicht angekommenen, irgendwie auf der Strecke gebliebenen Briefen die Geschichte einer Familie auf, deren dunkler Ursprung eine Überlebensgeschichte in Odessa ist: "Alles fing am 21. Oktober 1941 an, als die Deutschen und Rumänen jeden Juden von Odessa, den sie finden konnten, in die verlassenen Baracken des alten Munitionslagers am Tolbuchinplatz hineintrieben, die Baracken mit Benzin übergossen und anzündeten. Einer der wenigen, der das überlebte, war ausgerechnet mein melancholischer armenischer Großvater, den die neuen Herren bei ihrer Treibjagd auch eingesammelt hatten, weil sie ihn für einen Juden hielten." Im Roman gelingt es dem Großvater, über die Mauer des Zweiten Jüdischen Friedhofs zu klettern, wo er einschlief und zwei Tage später steif vor Kälte aufwachte und Maler wurde, um die Bilder zu malen, "von denen er geträumt hatte" und "aus denen Blut tropfte".
Es gibt Schriftsteller, die dieses Massaker am Tolbuchinplatz in Odessa, bei dem im Oktober 1941 rumänische Soldaten in Kollaboration mit den Nazis 22.000 Juden ermordeten, seitenlang geschildert hätten, detailliert, mit dokumentierten Fakten angereichert oder als große Imagination des Schreckens. Maxim Biller braucht nicht mal eine Seite dafür, so sehr reduziert er diese für seinen Roman so wichtige Szene. Er erlaubt sich, in der Erzählung etwas versetzt, nur ein Detail; das Geräusch, mit dem das Benzin gegen die Barackenwand schlägt, hörbar für die dort Eingeschlossenen, die es für Wasser halten, bevor es in Brand gesteckt wird. Indem es nur dieses eine Detail ist, entfaltet dieses als Bild eine enorme Gewalt, lässt das Reduzierte die Szene umso monströser wirken. Es verfolgt einen tagelang - und zeigt, was für ein großer Schriftsteller Maxim Biller ist.
Nach dem Krieg tun die Kommunisten so, als wären bei der Verbrennung der Juden von Odessa gar keine Juden verbrannt worden, sondern Sowjetbürger, und Mischas Vater und dessen Freund Lassik demonstrieren 1965 dagegen. Der Vater verliert bei dieser Demonstration seinen oberen linken Schneidezahn, als die Miliz mit Schlagstöcken anrückt, kann aber weglaufen, alle anderen bekommen zwei bis fünf Jahre Lager. Auch der Freund Lassik landet später in Hamburg, wo Mischa am Küchentisch diese Geschichten erzählt werden. "Eins verstehe ich nicht, Papa", sagt der Sohn irgendwann zu seinem Vater, "und warum leben wir jetzt unter alten Nazis?" - "Keine Ahnung, Mischenka", antwortet der Vater, "wirklich keine Ahnung."
Mit dem Tod der Mutter kehren bei Mischa frühe Erinnerungen zurück, oft nur flüchtige Szenen, wie er dem Großvater beim Malen zuschaute und dieser plötzlich ein Bild zur Seite schob, hinter dem ein schwarzes Loch in der Wand sichtbar wurde: die Katakomben von Odessa, durch die Schmuggler Waren vom Freihafen in die Stadt geschleppt hatten; wo sich während des Kriegs Juden und Partisanen versteckten; und später rumänische Soldaten, die Angst vor der Rache der Roten Armee hatten. Und es kehren vor allem Erinnerungen an die Mutter selbst zurück, die auch Schriftstellerin sein wollte wie der Sohn, ihm am Telefon ihre Literatur vorlas, Erzählungen, die im Roman kursiv eingefügt sind. Wenn der Sohn ihr für ihren Roman dann einen Verlag besorgt, indem er eine ihm bekannte Lektorin anruft, könnte man darin die autobiographische Geschichte von Billers Mutter Rada erkennen wollen, die im Alter mit dem autobiographischen Roman "Melonenschale" debütierte. Und in der Lektorin die frühere Leiterin des Berlin Verlags, Elisabeth Ruge. Doch sind diese autobiographisch klingenden Spuren für das, was erzählt wird, nicht wirklich von Gewicht. Sie führen nicht raus aus der Fiktion.
Was einen dagegen rausreißt aus dem so gut erzählten Buch, in dem eigentlich jedes Wort stimmt, ist ein Teil, der sich wie eine von Maxim Billers "Über den Linden"-Kolumnen liest, die er regelmäßig für das "Zeit"-Feuilleton schreibt und in denen er meistens mit einem seiner Freunde unterwegs ist, während er gegen irgendjemand anderen polemisiert. Der Weggefährte in der "Mama Odessa"-Passage, die eigentlich wichtig ist, weil es um eine Rede geht, die der Erzähler bei der Einweihung des neuen Denkmals am Tolbuchinplatz halten soll und die "Springer-Leute" bei ihm in Auftrag geben, heißt Ulrich. Er ist "Chef der Welt", sie kennen sich noch "aus München aus dem Schumann's". Der Erzähler sitzt auf der Kantstraße im chinesischen Restaurant "Good Friends" und sieht Ulrich, "wie immer grüne Armeejacke, weiße Turnschuhe, Jeans", an der Ampel stehen. Und so weiter. Das funktioniert nicht, weil das rührselige und aufdringliche Porträt dieser Ulf-Poschardt-Figur einen raustreibt aus der Literatur in eine Kolumne, die man gerade gar nicht lesen will. Und die einer Sprache die Wucht raubt, die man für sich doch schon selber hinausgetragen hatte ins eigene Leben. Wenn es zwei Maxim Biller gibt, ist es besser, wenn der Kolumnist dem Schriftsteller nicht in die Quere kommt.
Maxim Biller: "Mama Odessa". Roman. Kiepenheuer & Witsch, 240 Seiten
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