Besprechung vom 02.01.2020
Nachricht der Nacht
Rüdiger Safranskis Hölderlin-Biographie
Diese Hölderlin-Biographie besitzt alle Qualitäten, für die Rüdiger Safranski steht: Von den Anfängen in der Klosterschule über die geistigen und politischen Aufschwünge im Tübinger Stift, von den Versuchen, eine Position im literarischen Leben um 1800 zu finden, bis hin zur resignierten Einsicht "Sie können mich nicht brauchen", von der psychischen Erkrankung bis zur Wiederentdeckung im zwanzigsten Jahrhundert wird lebendig und anschaulich von Hölderlin erzählt. Dabei umgeht Safranski keine Herausforderung, er erfasst die philosophischen Positionen, mit denen Hölderlin sich auseinandersetzte, und wenn er auf einer Seite mal eben Kants Grundideen präzise und klar erläutert, dann staunt man darüber - Safranski aber ist schon bei Fichte, den er ebenso zielsicher vorstellt.
Natürlich ist das eine Biographie, aber auch eine Erzählung, in der man mit Hölderlin mitgeht, ganz buchstäblich, denn dieser war viel zu Fuß unterwegs, bis hin zur letzten grauenhaften Wanderung nach Bordeaux, wo er wieder einmal eine der Hauslehrerstellen antreten sollte, mit denen er Geld verdienen musste, und von der er äußerlich und psychisch zerrüttet zurückkehrte. Safranski lässt die Mutter auftreten, der Hölderlin zeitlebens Rechenschaft schuldete, die verheiratete Geliebte Susette Gontard, aus deren Haus er vertrieben wurde, den bewunderten und ihn fördernden Schiller (dem Safranski auch eine Biographie gewidmet hat). Man freut sich über pointierte Zuspitzungen: Der Pietismus sei eine "eigentümliche Verbindung von Innigkeit und Misstrauen gegen sich selbst"; die Natur besitze um 1800 noch eine "religiöse Restwärme". Safranskis Urteile sind nachvollziehbar, zum Beispiel jenes, dass Hölderlin kein Romantiker sei, weil diese die nahen und alltäglichen Gegenstände mit anderen Augen ansehen wollten, während Hölderlin in ferne, vergangene oder visionäre Welten blickte. Viele der schönsten Gedichte stellt Safranski einfühlsam vor.
Auch die problematischen Seiten Hölderlins werden erfasst: der Kulturnationalismus zum Beispiel, der Deutschland für die "Revolution der Gesinnungen und Vorstellungsarten" in Europa zuständig sein lässt, das befremdliche Gedicht "Der Tod fürs Vaterland", aus dem Safranski allerdings die schlimmsten Verse - "Lebe droben, o Vaterland, / Und zähle nicht die Toten! Dir ist, / Liebes! nicht Einer zu viel gefallen" - nicht zitiert und das zum "nationalistischen Missbrauch" wohl doch selbst einlädt. Politisch hält Safranski sich insgesamt zurück, die früheren intensiven Diskussionen, ob Hölderlin Jakobiner gewesen sei oder nicht, bewegen nicht mehr, und Aktualisierungen von Hölderlins Denken sind ohnehin schwer möglich.
Ganz am Schluss des Buchs findet sich allerdings eine merkwürdige Aussage, nachdem Safranski zunächst feststellt, dass heutigen Lesern Hölderlins Rede von den Göttern fremd geworden sei: "Die Götternacht, von der Hölderlin sprach, die gibt es wirklich heutzutage, hierzulande." Was bedeutet das? Eine so starke und weitreichende Behauptung in den letzten Sätzen einer Biographie sollte man doch erläutern und ein wenig ausführen, damit es nicht beim Raunen bleibt.
Ist dies auch eines der besten Bücher Rüdiger Safranskis? Das vielleicht nicht, denn in seinen intellektuellen Biographien Nietzsches oder Heideggers zum Beispiel war Safranski gepackt, erschloss sich mit großer Neugier deren Denkbewegungen und ließ die Leser daran teilhaben. Hölderlin stellt er eher von außen dar. Wenn man dieses Buch mit der großen und nur zu bewundernden Goethe-Biographie Safranskis vergleicht, die schwungvoll und leichthändig geschrieben ist, dann scheint ihm Hölderlin weniger zu liegen, aber das gewisse Fremdeln hat auch objektive Gründe. Denn Hölderlins geistige Grundlagen sind nur noch Fachleuten direkt zugänglich. Die Elegie "Brot und Wein", die Safranski zu Recht preist und vollständig abdruckt, geht von geschichtsphilosophischen Annahmen aus: Auf die Antike als Zeitalter der Einheit von Mensch und Natur folgt die zerrissene Moderne, die von einem kommenden Gott überwunden werden soll, an dessen Ankunft die Dichter mitwirken. Diese Strophen bieten einen grandiosen und manchmal überwältigenden Klang, einer einfachen Lektüre jedoch entziehen sie sich. Wer aber Hölderlin kennenlernen und verstehen will, sollte Safranski lesen.
DIRK VON PETERSDORFF
Rüdiger Safranski: "Hölderlin - Komm! ins Offene, Freund!". Biographie.
Carl Hanser Verlag, München 2019. 400 S., geb.
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