Ist die Zerstörung Gazas eine Folge des Angriffs vom 7. Oktober oder die Zuspitzung eines langen Prozesses der Enteignung und Vertreibung? Haben Palästinenser*innen das Recht, sich gegen die Besatzung zu wehren? Ist der Vorwurf des Genozids antisemitisch?
Enzo Traverso, Historiker der europäischen Moderne und Gegenwart, geht dem palästinensisch-israelischen Konflikt auf den Grund und entwirft eine radikale Analyse jenseits einseitiger Perspektiven auf das Geschehen in Gaza.
Israel wird oft als demokratische Insel inmitten eines finsteren Ozeans beschrieben und die Hamas als eine Bande fanatischer Mörder. Diese Darstellung weckt Erinnerungen an das 19. Jahrhundert, als der Westen im Namen der Zivilisation Völkermorde in Asien und Afrika verübte unter gleicher Prämisse: Zivilisation gegen Barbarei, Fortschritt gegen Rückständigkeit. Doch ein verheerender Krieg, der im Namen des Kampfes gegen den Antisemitismus geführt wird, gefährdet unsere ethischen Werte und politischen Orientierungslinien. Die Grundlagen unseres moralischen Gewissens stehen auf dem Spiel: die Unterscheidung zwischen Gut und Böse, zwischen Unterdrückenden und Unterdrückten, zwischen Täter*innen und Opfern. Der Anschlag vom 7. Oktober war schrecklich, doch es genügt nicht, ihn nur zu verurteilen; er muss vielmehr mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln der kritischen Geschichtsforschung analysiert werden. In seinem dringenden Essay entwirrt Enzo Traverso den Knoten aus Geschichte und Erinnerung, der die politische und intellektuelle Debatte seit dem 7. Oktober bestimmt.