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Besprechung vom 31.05.2024
Im Abfall spiegelt sich die Welt
Lehrreiche Streifzüge: Oliver Schlaudt macht sich Gedanken über den Müll und sucht ihn dort auf, wo er sich befindet.
Von der Gattung "Homo" lebt nur noch die Art "Homo sapiens". Das sagt uns die biologische Systematik, die von Angehörigen ebendieser Art erdacht worden ist. Das beigefügte lateinische Eigenschaftswort "sapiens" schreibt, je nach Übersetzung, den Menschen zu, verständig, gescheit, wissend, vernünftig oder gar weise zu sein. Das ist in allen Fällen eine anspruchsvolle Selbstbezeichnung, auch wenn der Mensch - notgedrungen - allmählich davon abkommt, sich als Krönung der gesamten Schöpfung anzusehen. Auf Bescheidenheit und Demut, die Homo sapiens neben Einsichtsfähigkeit zu wünschen wären, verpflichtet ihn ohnehin sein Gattungsname, der ein Herkunftsname ist. "Homo" ist wortgeschichtlich mit "humus" verbunden. Diese etymologische Erdung findet ihre Entsprechung in der aus Begräbnisliturgien vertrauten Formel "Erde zu Erde . . .". Ebenso passend erscheint, dass auch die Tugend der Demut, zumindest in ihrer lateinischen Wortgestalt "humilitas", im Erdreich des "humus" wurzelt.
Gründe, sich auf seine Erdgebundenheit zu besinnen, hat der Erdling Mensch mehr als genug, zumal in Zeiten des Klimawandels. Das wiederum heißt nicht, dass es unnötig wäre, ihn daran - an seine "Conditio humana" - zu erinnern. Eine Methode, jemanden zur Besinnung zu bringen, kann die Konfrontation mit dem sein, was er angerichtet hat. Zu Letzterem zählt in unserem, im Fall der Menschengattung, die Vermüllung des Erdenrunds.
Oliver Schlaudts Buch "Zugemüllt" hat einen konfrontationstherapeutischen Zug. Der Autor benutzt den Zeigefinger aber überwiegend zum Zeigen, kaum erhebt er ihn zum Anklagen - was freilich nicht heißt, dass dem Leser nicht unbehaglich zumute werden kann. Und am Ende ertönt dann doch ein Weck- und Mahnruf, allerdings nicht aus dem Munde Schlaudts. Das letzte Wort hat Friedensreich Hundertwasser, der umtriebige Maler, Architekt und Naturschützer, mit einem eindringlichen Manifest, das er vor viereinhalb Jahrzehnten verfasste. Es trägt den beinahe humorvollen Titel "Scheißkultur - die heilige Scheiße", tadelt den undankbaren und ignoranten Weltverschmutzer namens Mensch, der die lebensspendende Humusschicht seines Heimatplaneten zerstört und die natürlichen Kreisläufe unterbricht, es beschwört die Zusammengehörigkeit von "Homo, Humus, Humanitas" und empfiehlt als Vehikel der nötigen "Kehrtwendung", sozusagen ganz praktisch, die Humustoilette.
Die gut dreihundert Seiten, die dem sentenziösen Finale vorausgehen, möchte Schlaudt, der an der Hochschule für Gesellschaftsgestaltung in Koblenz Philosophie und Politische Ökonomie lehrt, als "eine Art Reisebericht" verstanden wissen. Der Text verdankt sich erklärtermaßen dem Impuls, "den Schreibtisch zu verlassen und den Müll dort aufzusuchen, wo er sich befindet" - beispielsweise in einem gigantischen Abwasserkanal, einem Zwischenlager für radioaktive Brennelemente, einer Tierkadaververwertungsanstalt, einer voll automatisierten Mülltrennungsanlage. Die Exkursionen führen, anders als der Untertitel nahelegen könnte, nicht nur durch Deutschland (Destinationen sind unter anderen: Bitterfeld, das Ruhrgebiet, Gorleben, der Oberrheingraben, das Moseltal), sie führen ebenso in die europäische Kultur- und Technikgeschichte sowie durch die erstaunlich gut gefüllten Regale einschlägiger Müll-Literatur verschiedenster Genres.
Philosophisch ist das Unternehmen "Müllphilosophie" in mancherlei Sinn. Sich dem Müll "konkret" zuzuwenden führe uns unsere eigene "Körperlichkeit, Unreinheit und Endlichkeit" vor Augen, verstricke uns in "fundamentale Fragen" nach unserer Identität, unserem Platz im Kosmos, unseren Vorstellungen von einem guten Leben. Neben solchen fundamentalen sind es Fragen der Gegenwartsdiagnose, die den Philosophen beschäftigen. Dabei kommt ein - in weiterem Sinne - psychoanalytisches Interesse zu seinem Recht. Soll heißen: Bei der Beschreibung und Beurteilung unseres "Müllregimes" geht es auch um die Frage nach obwaltenden Reinheitsidealen - und um das Zusammenspiel von Hygiene-Obsession und Verdrängung des uns anhaftenden Erdenrests, den "zu tragen peinlich" sein kann (wie Goethe am Schluss seines "Fausts" die Engel sagen lässt).
Die Textsorte seines Buches rechnet Schlaudt einer "Hybridgattung" zu, die "zwischen Literatur und Wissenschaft" angesiedelt sei. Derlei, setzt er hinzu, verlange das Anthropozän von uns, das gegenwärtige Erdzeitalter, das durch den Menschen, den einflussreichsten Akteur der Biosphäre, geprägt werde. Neue "Narrative" seien vonnöten, die die einst so selbstverständliche Trennung von Natur und Kultur infrage stellten. Das mag so sein - und tatsächlich mehren sich derzeit, wenn nicht alles täuscht, Bücher, die Schilderungen subjektiven Befindens mit Analysen weitreichender "objektiver" Zusammenhänge verbinden - wie etwa der unlängst erschienene Essay "Landkrank" des dänischen Soziologen Nikolaj Schultz (F.A.Z. vom 3. April). Doch sind Welterkundungen, die sich zwischen Literatur und Wissenschaft bewegen, nicht erst zu verzeichnen, seit "Anthropozän" zu einem Losungswort geworden ist.
Wie auch immer - Oliver Schlaudt kultiviert das sachdienliche Umherschweifen. Auf seinen ebenso lehr- wie geistreichen Streifzügen, die von fotokünstlerischen Arbeiten Swaantje Güntzels gerahmt werden, thematisiert er das vielgestaltige Objekt seiner analytischen Neugierde unter verschiedenen Aspekten: als naturhistorisches Phänomen - Stichwort "Entropie"; als chemisch und technisch komplexes Nebenprodukt des wirtschaftlich organisierten Stoffwechsels der Menschen mit der Natur; als lebensweltlich "Ausgesondertes". Eine gewisse dramaturgische Zuspitzung ergibt sich, sobald unsere leiblichen Existenzbedingungen als solche ins Spiel kommen und mit ihnen unsere Ausscheidungen - und der "Müll, zu dem wir alle einmal werden", nach dem Tod.
Der Silberstreif am Horizont der "Müllmoderne" trägt den Namen "Kompostmoderne", dessen ernster Witz hörbar wird, sobald man ihn als Antwort auf die Frage liest, was nach der Postmoderne noch kommen könnte - wenn nicht das Ende von Homo sapiens. UWE JUSTUS WENZEL
Oliver Schlaudt: "Zugemüllt". Eine müllphilosophische Deutschlandreise.
Illustriert mit Werken von Swaantje Güntzel. C. H. Beck Verlag, München 2024. 364 S., Abb., br.
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