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Besprechung vom 17.11.2023
Ein Mann mit Sonderstellung in der Partei
Manfred Görtemaker legt eine Biographie von Rudolf Heß vor, die mit einigen Mythen aufräumt
Manfred Görtemaker, emeritierter Potsdamer Zeithistoriker, bietet die erste wirklich umfassende Biographie des "Führer-Stellvertreters" Rudolf Heß, auf dem aktuellen Stand der Forschung und auf breiter, zum Teil bisher nicht ausgewerteter Quellenbasis. Der 1894 in Alexandria geborene Heß wurde durch das borniert-nationalistische "Auslandsdeutschtum" des Kaiserreichs und die äußerst autoritäre Erziehung seines Vaters geprägt. Der Erste Weltkrieg bot ihm die Chance, die von Heß senior oktroyierte Kaufmannslehre in Hamburg abzubrechen und sich als Kriegsfreiwilliger zu melden. Nach vier Jahren Krieg fand sich Leutnant Heß, wie viele seiner Zeitgenossen, durch die Niederlage zutiefst erschüttert, 1919 im revolutionären München wieder. Gegen die Räterepublik engagierte er sich im Freikorps-Milieu und durchlief einen politischen Radikalisierungsprozess, der ihn 1920 zur NSDAP führte. Als begeisterter Gefolgsmann Hitlers machte er in der schnell expandierenden Partei von sich reden, übernahm 1923 ein SA-Bataillon und war führend an dem Putschversuch vom 8. und 9. November beteiligt.
Nach der Neugründung der NSDAP avancierte er 1925 zum Privatsekretär Hitlers. Wie wohl bei keinem anderen führenden Nationalsozialisten war seine absolute Loyalität gegenüber Hitler und das ihm entgegengebrachte außerordentliche Vertrauen des Parteiführers die Basis für seine Sonderstellung. Als Ende 1932 im Zuge der schweren Krise der Partei der mächtige Reichsorganisationsleiter Gregor Straßer zurücktrat, übernahm der Hitler ergebene Heß seine Aufgaben und wurde dann im April 1933 "Stellvertreter des Führers" im Parteibereich.
Heß gelang es in den kommenden zwei Jahren, den im Münchner Parteiviertel residierenden "Stab Heß" zu einer zentralen Institution des "Dritten Reiches" auszubauen: Er konnte, gestützt auf den agilen "Stabsleiter" Martin Bormann, in der NSDAP wichtige Führungsfunktionen durchsetzen und nahm gegenüber dem Staatsapparat weitreichende Veto- und Interventionsrechte in Anspruch. Görtemaker weist nach, dass sich Heß bis zu seinem spektakulären Schottland-Flug im Mai 1941 auf einer Reihe von Politikfeldern stark engagierte, so insbesondere in der Gestaltung des Verhältnisses des NS-Staates zu den Kirchen, in der rassistischen Bevölkerungspolitik sowie bei der Judenverfolgung.
Ob aber mit der Macht der Institution auch im gleichen Maße die persönliche Macht und der politische Einfluss von Heß wuchs, wie Görtemaker meint, scheint durchaus fraglich. Denn im Dschungel der NS-Bürokratie hörten die vierzig Sachbearbeiter, Sonderbeauftragten und sonstigen selbständigen Büros, die dem Stab Heß unterstanden, nur zum Teil auf seine Weisungen; im Übrigen handelte es sich um Parteifunktionäre, die sich von einer rein formellen Anbindung an den Führer-Stellvertreter eine politische Aufwertung versprachen, ansonsten aber höchst selbständig agierten.
Dass Heß seit der Sudetenkrise Hitlers über die auf einen Krieg zusteuernde Politik "irritiert und bestürzt" gewesen sei, ist nur schwer zu belegen, und Görtemaker stützt sich denn hier auch maßgeblich auf Heß' "Schweigen". Dass er sich immer mehr aus dem eigentlichen Führungszirkel zurückzog und zunehmend isoliert wurde, deutet doch eher auf einen realen Machtverlust hin.
Demgegenüber kommt die zentrale mediale Rolle, die Heß im Nationalsozialismus spielte, etwas zu kurz: Der als unkorrumpierbar und bescheiden geltende Heß bildete als das "Gewissen der Partei" mit seinen beständigen (und völlig fruchtlosen) Appellen an die Tugenden der Parteifunktionäre in der öffentlichen Wahrnehmung ein Gegengewicht zu deren allgemein schlechtem Ruf; vor allem aber ist seine Person untrennbar mit dem Aufbau des Führermythos um Adolf Hitler verbunden.
Görtemaker räumt entschieden (wenn auch nicht als Erster) mit einer Reihe von weitverbreiteten Mythen auf: Dazu gehört etwa, dass Heß, als er 1924 zusammen mit Hitler im Landsberger Festungsgefängnis einsaß, an der Abfassung von "Mein Kampf" beteiligt gewesen sei. Sein Flug nach Schottland, im Mai 1941, so erfährt man weiter, war keine "Friedensmission" (weder in Hitlers noch im eigenen Auftrag), sondern der Versuch, dem Deutschen Reich angesichts des bevorstehenden Kriegs gegen die Sowjetunion, über den Heß früh informiert war, den Rücken frei zu halten. Zu diesem Komplex hat Görtemaker erhebliches Material insbesondere aus britischen Archiven zusammengetragen, ebenso zu den Umständen des Suizids von Heß am 17. August 1987 im Spandauer Kriegsverbrechergefängnis; sämtliche Kombinationen über einen möglichen Mord weist er überzeugend als vollkommen haltlos zurück.
Es mag an dem äußerst zurückhaltenden, ja verschrobenen Wesen des Protagonisten liegen, dass die Auswertung des Nachlasses von Heß - aufbewahrt im Berner Bundesarchiv und mehr als 4000 Briefe umfassend - sich in Görtemakers Biographie nicht in einer breiteren Darstellung seiner Persönlichkeit, seines Privatlebens und insbesondere der Beziehung zu seiner Frau Ilse, einer überzeugten, aber auch eigenwilligen Nationalsozialistin, niederschlägt. So ist Görtemakers Buch im Wesentlichen eine informative und lesenswerte politische Biographie. PETER LONGERICH
Manfred Görtemaker: "Rudolf Hess". Der Stellvertreter. Eine Biographie.
C. H. Beck Verlag, München 2023.
758 S., Abb., geb.
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