Glaubt man dem Autor dieser Biografie, dann ist das so. Und er versucht dieses Bild mit seinem Buch zurechtzurücken. Nun kann ich nicht beurteilen, ob Hess unterschätzt wurde und wird oder eben nicht. Mich hat an dieser Biografie eher die Gedankenwelt solcher Leute interessiert. Leider sind die Mitteilungen dazu dünn und widersprüchlich.Wahr ist, dass Hess Hitlers Stellvertreter in der NSDAP war. Später (1938) ernannte "der Führer" Göring zu seinem Nachfolger, sollte ihm etwas zustoßen. Hess gehörte zu den sehr frühen Vertrauten von Hitler. Besonders nach der "Machtergreifung" entwickelte Hess die NSDAP zu einer zentralistischen Führerpartei und zeigte dabei ein erhebliches Machtbewusstsein. Er gehörte jedoch nicht zum engsten Kreis des Berghofes, weil dies seiner sehr seltsamen Persönlichkeit nicht entsprach. Hess brauchte Ruhe und Gleichmäßigkeit und mochte keine Ausschweifungen, was ihn ganz selbstverständlich vom Obersalzberg fernhielt.Manche Autoren sehen darin einen Machtverlust. Der Autor ist anderer Meinung. Ob das tatsächlich so war, kann man schwer beurteilen, aber es spielt für das Weitere eine erhebliche Rolle. Jedenfalls für die Erklärungsversuche zum Schottlandflug von Hess im Mai 1941. Vermutlich wird man Hess nie ganz verstehen können. Daran sind auch etliche Psychologen gescheitert, die ihn insbesondere in England und später für den Nürnberger Prozess untersucht haben. Auch der Autor vermag es nicht, ein klares Bild der Persönlichkeit von Rudolf Hess zu zeichnen. Wahrscheinlich wollte er nicht spekulieren.So aber ist diese Biografie zwar extrem detailreich, aber auch schwer zu lesen. Man wird ständig mit neuen Figuren konfrontiert, deren Wirken nur im Zusammenhang mit Hess diskutiert wird. Die großen historischen Linien fehlen in diesem Buch ebenfalls. Alles dreht sich nur darum, was Hess zu dieser oder jener Zeit gemacht hat und wie man das im Sinne der These des Autors einschätzen sollte.In die Psyche dieses Mannes dringt der Autor nicht ein. Er hält sich an Fakten. Einschätzungen überlässt er anderen. Ein US-Politiker zum Beispiel meinte nach einem Treffen mit Hess, dass dieser ein Mann von äußerst geringer Intelligenz sei und Hitler hündisch verehre. Aber bereits mit einer solchen Einschätzung kommt man in Erklärungsnöte.Die Idee von Hess nach Schottland zu fliegen, um sich dort mit einem Adligen zu treffen, den er noch nie wirklich persönlich kennengelernt hatte, und anzunehmen, dass dieser dann die britische Politik ändern könnte, ist so haarsträubend dumm, dass man sie kaum glauben kann. Sie offenbart neben einem kindischen Gemüt auch eine völlige Unkenntnis der Verfassungsstruktur des Vereinigten Königreichs. Und wie kann andererseits jemand einen anderen Menschen hündisch verehren und ihn dann so hintergehen und bloßstellen? Alle Erklärungen, die ich auch in diesem Buch dazu gelesen habe, greifen nicht, weil sie eine Rationalität zugrunde legen, über die Hess offenbar nicht verfügte.Näher ins Detail zu gehen, würde diese Rezension überdehnen. Das Buch liest sich ein wenig schwer, weil es zu detailliert ist. Der Autor konnte es aber gar nicht anders verfassen, wenn er seine obige These beweisen wollte. Einen wirklichen Einblick in die Psyche oder die Person des Rudolf Hess liefert es nicht.