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Besprechung vom 25.10.2024
Ohne feste Zuschreibungen muss es doch auch gehen
Für Anstöße von unten: Aleida und Jan Assmann umkreisen einen Gemeinschaftssinn, den Demokratie brauche
Bauchgefühl, Intuition, Gespür - die Begabung spontanen Erfassens von Situationen oder Sachverhalten wird gern als "sechster Sinn" bezeichnet. Der Ausdruck verströmt darum bisweilen ein übersinnliches, übernatürliches Flair - was ihn nicht dazu prädestiniert, in wissenschaftlichen Zusammenhängen verwendet zu werden. Gleichwohl sind Aleida und Jan Assmann seinem Charme offenbar erlegen. Als "sechsten, sozialen Sinn" charakterisieren sie in einem gemeinsam verfassten Buch - das Manuskript ist kurz vor dem Tod von Jan Assmann fertiggestellt worden - ihr Untersuchungsobjekt: den Gemeinsinn, die Aufgeschlossenheit für das, was Menschen miteinander verbindet.
Ist die Orientierung am Gemeinsamen, am Gemeinwohl etwas Mysteriöses, kommt sie in einer Gesellschaft, die durch Gruppenegoismen geprägt ist und in welcher der Eigennutz den Ton anzugeben scheint, einem Wunder gleich? Das soll die Etikettierung aber wohl nicht suggerieren. Unter "Gemeinsinn", so das definierende Resümee des ersten Kapitels, einer sprach- und begriffsgeschichtlichen Exkursion, werde in dem Buch ein "sozialer Sinn" verstanden, "der zusammen mit den anderen fünf Sinnen als sechster Sinn jedem Menschen angeboren ist".
Ob die - insoweit also "natürliche" - Anlage sich entfalte oder verkümmere, das hänge allerdings ab von der Kultur, in die man hineingeboren werde, und von deren Werten. Gegen das Verkümmern dieses speziellen sechsten Sinns ist das Gemeinschaftswerk geschrieben; es reiht sich auf seine Weise unter die mittlerweile zahlreich gewordenen Publikationen ein, die sich der Stärkung von Demokratie und gesellschaftlichem Zusammenhalt verschreiben.
Zu den vielversprechenden "Potenzialen" des Gemeinsinnbegriffs zählen Aleida und Jan Assmann, dass er "grundsätzlich keine klaren Grenzen", dass er vielmehr die - vielleicht dann doch zauberhafte? - "Kraft" besitze, "die Logik fester Zuschreibungen auszuhebeln". Soll heißen, er beziehe sich auf keine "klar umrissene Gemeinschaft", seine Spannweite reiche vom "engsten Kreis der Familie" bis zum "weitesten Kreis der Menschheit bzw. alles Lebendigen", und dies "je nachdem, mit wem wir empfinden, feststellen oder beschließen, etwas 'gemein' - communis - zu haben". Damit ist dann auch der thematische Bogen der folgenden Kapitel weit gespannt, in denen der Fokus von Gemeinsinn und Gemeinwohl zu Solidarität und Brüderlichkeit sowie zur politischen Kultur wandert, weiter zu Menschenbildern zwischen Partikularismus und Universalismus, sodann zu Freund- und Feindbildern, um sich anschließend auf Formen des Respekts, auf Streitkultur und Identitätspolitik sowie auf das Verhältnis von Menschenrechten und Menschenpflichten zu richten. All diese Aspekte und Facetten reichern den Gedanken des Gemeinsinns an - ohne dass allerdings dessen Umrisse in gleichem Maße an begrifflicher Schärfe gewännen. Zuletzt geht es aber eben auch nicht um den Gemeinsinn für sich genommen, sondern um dessen Bedeutung für die Demokratie.
Den ermunternden Abschluss bildet ein kunterbuntes Defilee von "Helden und Heldinnen des Gemeinsinns", die mit gutem Beispiel vorangehen, unter anderen: japanische Fußballfans, die nach Spielen ihrer Nationalmannschaft die Tribünen von Müll säubern, auch im "gegnerischen" Fanblock; der Künstler Gunter Demnig, der seit bald drei Jahrzehnten die "Stolpersteine" verlegt, die an Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft erinnern; die Sozialpädagogin Sabine Werth, die 1993 mit Mitstreitern in Berlin die erste "Tafel" gründete, das Vorbild für mittlerweile an die tausend solcher Einrichtungen in Deutschland, die Lebensmittel vor der Verschwendung bewahren und an Bedürftige weitergeben.
Die dem Anschauungsunterricht vorausgehenden Erörterungen verstehen sich als "Suchbewegung", die sich vom Begriff des Gemeinsinns die Richtung vorgeben lasse. Geweckt wird das Erkenntnisinteresse der Assmanns erklärtermaßen von einer "Lücke", die sich in liberal-demokratischen Rechtsstaaten auftue. Gesucht ist mit dem Gemeinsinn als Richtungsanzeiger, was die Lücke, die auch als "Leerstelle" figuriert, zu schließen geeignet sein könnte. Um zu beschreiben, was sie umtreibt, greifen die beiden auf einen Locus classicus zurück, das sogenannte Böckenförde-Diktum. Seit es vor sechzig Jahren formuliert wurde und alsbald in den Orbit der geflügelten Orakelworte abhob, dürfte es in nur wenigen der deutschen Debatten über die Bestandsfähigkeit der Demokratie gefehlt haben: "Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann."
Das, wovon die freiheitliche Ordnung des demokratischen Rechtsstaats lebe, hat der Verfassungsjurist und Rechtsphilosoph Ernst-Wolfgang Böckenförde später als "ein verbindendes Ethos, eine Art 'Gemeinsinn'" umschrieben und die Frage angefügt: "Woraus speist sich dieses Ethos, das vom Staat weder erzwungen noch hoheitlich durchgesetzt werden kann? Man kann sagen: Zunächst von der gelebten Kultur. Aber was sind die Faktoren und Elemente dieser Kultur? Da sind wir dann in der Tat bei Quellen wie Christentum, Aufklärung und Humanismus."
Aleida und Jan Assmann glauben konstatieren zu können, dass das, was Böckenförde als "Lösung des Problems" angesehen habe, sich heute, "in der diversen Gesellschaft", nurmehr als "offene Frage" erweise. Gleichwohl halten sie sich im Wesentlichen an seine Problemexposition, auch wenn sie das Spektrum der Kandidaten für die Rolle einer gemeinsinnstiftenden Quelle um nichtchristliche religiöse Traditionen erweitern sowie um andere Kulturen als nur die "westliche", um gemeinschaftsbildende Praktiken des Alltags und um Gefühlsbildung.
So ähnelt das Fazit ihrer Suche nach "normativen Ressourcen" demokratischer Gemeinwesen der Problembeschreibung Böckenfördes: "Demokratie braucht Solidarität und Gemeinsinn im Zusammenspiel von Menschenrechten und Menschenpflichten. Sie lässt sich nicht allein durch das Recht des Staates von oben nach unten durchsetzen. Es bedarf auch eines Anstoßes von unten durch Kontakte, Begegnungen, Nachbarschaftshilfe, enge Kreise, bürgerschaftliches Engagement."
Und was die "offene Frage" betrifft: Der Garantieausschluss, den das "Diktum" formuliert, lässt sich so lesen, dass offenbleibe, wie das demokratische Experiment moderner Rechtsstaatlichkeit ausgeht. Ebendas bringt der direkt nachfolgende Satz zum Ausdruck, den Assmanns erstaunlicherweise nicht zitieren: "Das ist das große Wagnis, das er [der Staat] um der Freiheit willen eingegangen ist." Die Autoren tun ihrem Impulsgeber jedenfalls unrecht, wenn sie, was Böckenförde als "verbindendes Ethos" vorschwebte, in die Nähe der Idee einer "deutschen Leitkultur" mit "christlich-abendländischem" Wertekanon rücken, wie sie um die Jahrtausendwende in CDU-Kreisen lanciert wurde. So hat der Verfassungsrechtler etwa das Kopftuch einer muslimischen Lehrerin einmal ausdrücklich als "ein Stück Integration" bezeichnet.
In anderer Hinsicht aber bewegen sich die Überlegungen mitunter zu sehr in den Bahnen Böckenfördes. Die Rede von einer zu füllenden Lücke evoziert ein Ideal der Lückenlosigkeit. Es verdankt sich, wenn nicht alles täuscht, der Übernahme der nicht unbestreitbaren Säkularisierungsthese, von der Böckenfördes Sentenz getragen wird. Deren Wortlaut legt nahe, dass es einmal politische Ordnungen gab, die ihre eigenen Voraussetzungen effektiv "garantieren" konnten - durch Glaubensmächte in der Funktion von Garantiemächten. Das wäre, mit Blick auf sozialen Zusammenhalt und Stabilität, so etwas wie ein lückenlos funktionierendes Gemeinwesen gewesen. Hätte es je ein solches politisches Perpetuum mobile gegeben, müsste es eigentlich noch existieren.
Die Energiezufuhr, die Demokratie als politische Organisationsform benötigt, um in Bewegung zu bleiben, kann ihr zufließen, weil sie zugleich eine Lebensform bildet, in der Gemeinsinn kultivierbar ist. Nicht zuletzt das lässt sich aus Aleida und Jan Assmanns Gemeinschaftswerk lernen. UWE JUSTUS WENZEL
Aleida Assmann und Jan Assmann: "Gemeinsinn". Der sechste, soziale Sinn.
C. H. Beck Verlag, München 2024. 262 S., Abb., geb.
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