Ein deutscher Herbst im Zeitalter der KI: eine abgründige, erhellende, rauschhafte Lektüre. Der lang erwartete Nachfolger des SPIEGEL-Bestsellers Hochdeutschland.
Brandenburg, im Herbst 2033. Mit einem Festakt werden die führenden Köpfe der Omen SE, des wertvollsten deutschen Technologieunternehmens, in den Ruhestand verabschiedet. Für sie bricht das Zeitalter der Muße an, «die Zeit der Melonen und Feigen». Gläserne Smarthouses stehen in der unternehmenseigenen Siedlung am Auensee bereit. Dort finden sie zu sich, sie kommen zur Ruhe. Doch am Himmel über den Endmoränen kündigt sich schon ein Wetterleuchten an . . .
Alexander Schimmelbusch führt uns an einen Ort in naher Zukunft, wo erschöpfte Bildungsbürger und die Anhänger neuer Diktaturen allein sind mit ihrer Wut und ihrer Sehnsucht, mit invasiven Arten und Technologien. Karma ist eine Zukunftsvision, ein Gesellschaftsroman, dem es um nicht weniger geht als «das gute Leben». Aber was ist gut? Wer entscheidet, und wer richtet über wen? Und was richtet sie an, die Anziehung, die Verachtung, auf allen Seiten?
Besprechung vom 31.08.2024
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Ein deutscher Houellebecq? Ja, und mehr: Alexander Schimmelbuschs Digitalwelt-Romansatire "Karma"
Dass nicht erst die Zukunft, sondern schon die Gegenwart von "autonomen Betriebssystemen" zunehmend ruiniert wird, wissen wir durch wild gewordene Jalousien und gern verdrängte, leider immer wieder auftauchende Berichte von Unfällen selbstfahrender Autos. Auch in schlimmsten Fällen hört man von KI-Idioten trotzdem oft noch das Mantra, die Maschine sei halt noch nicht ganz ausgereift, werde aber irgendwann Perfektion erlangen.
Besser wird manches schon im Jahr 2033 funktionieren, zumindest in Alexander Schimmelbuschs dann spielendem Roman "Karma". Interessanterweise heißen in dieser fiktiven Zukunft Betriebssysteme nicht mehr Siri oder Alexa - sondern Dieter. Er steuert die Smarthomes in einer brandenburgischen Wohnsiedlung für Führungskräfte eines deutschen Softwarekonzerns. "Dieter war mit der Fähigkeit ausgestattet, die Interaktion von Schatten, Wind und Wasser zu choreographieren, um die atmosphärischen Bedingungen in jedem Bungalow den Parametern des persönlichen Wohlbefindens der Bewohner anzupassen, auf Basis einer Chakrenfluss-, Körpersprachen-, Stimmlagen-, Schnarchklangfarben-, Blinzelfrequenz-, Tippkadenz-, Abdominalsonar-, Urin- und Stuhlanalyse."
Und das ist noch nicht alles. Dieter kann nicht nur durch das Bespielen einer Klaviatur aus Lüftungsmechanismen und Geothermie-Heizungen die Folgen des Klimawandels für die Menschen abmildern und ihr Leben viel angenehmer machen (ein komischer Höhepunkt des Buches ist die Beschreibung einer sehr verfeinerten Duschtoilette, die er steuert, um jeden Stuhlgang in ein "holistisches Power-Sabbatical" zu verwandeln). Sondern er kommuniziert auch und lernt beständig dazu: "Dieter war Made in Germany und daher von einem nachhaltigen Wissensdrang geprägt", heißt es. Gegen Ende des Romans erfahren wir in einem Dialog, der wie eine Parodie eines solchen mit dem Computer HAL in Stanley Kubricks "2001" wirkt, dass Dieter sogar nahe daran ist, Bewusstsein zu erlangen, oder dies zumindest vorgibt. Trotzdem wird er von Protagonisten des Romans als "Hausmeister" und "Kleinbürger" geschmäht.
Dieter ist aber nur eine von vielen satirischen Science-Fiction-Zuspitzungen unserer digitalen Wirklichkeit, die Alexander Schimmelbusch sich ausgedacht hat. Die größte ist das fiktive Unternehmen Omen SE, bei dem die Protagonisten angestellt sind. Es ist von einem Berliner Start-up schnell zum "wertvollsten deutschen Unternehmen" aufgestiegen und überflügelt mirakulöserweise selbst Konkurrenten aus dem Silicon Valley oder aus China. Erstaunlich, wie schnell die Realität hier die Gestalt der Fiktionen ändert: Bildeten in Dave Eggers' platter Google-Satire "The Circle" vor knapp zehn Jahren noch eine ringförmige Immobilie und ein Campus die Konzernzentrale, ist die Firma Omen SE, obwohl sie zunächst einen "Tower" in Berlin baut, zum Zeitpunkt der Handlung längst dezentral geworden.
Die Programmierer bei Omen sind in ein "Zeitalter der Muße" eingetreten und lassen sich's in ihren Bungalows in der brandenburgischen Seenlandschaft gut gehen. Sie bespielen Omen-Subunternehmen wie Freudiana, "eine Coaching-Plattform für Panikmanagement und Psychotherapie", oder Nosferatu, einen digitalen Drogenkurier, der per Drohne liefert. Oder "Kaffeehaus", eine besonders in Amerika erfolgreiche, friedliche Social-Media-Plattform - sowie "Erda", deren dunklen Zwilling. Die Erzählung von "Erda" lässt auch einen Blick darauf erhaschen, wie es den meisten Menschen auf der Erde im Jahr 2033 in diesem Roman geht - sie leben in einer postmodernen Hieronymus-Bosch-Hölle. Die Bessergestellten, also vor allem die Protagonisten, überhöhen derweil ihr hedonistisches Leben in pseudophilosophischen Apps. Die Satire gilt sowohl ihrer Verlotterung als auch ihrer Verfeinerung: Obwohl das Jogginghosen-Dasein der Führungskräfte sie als Karl Lagerfelds Albtraum erscheinen lässt, trinken (und vermarkten) sie die teuersten Weine der Welt. Lange Teile des Romans widmen sich Alkoholgenüssen oder Sportwagen.
Während "Karma" sich aus lauter Parodien einzelner Gegenwartsphänomene zusammensetzt, die gut für sich stehen, bündelt Schimmelbusch sie durch das Oberthema des Deutschtums. Das hatte er schon in seiner Finanzwelt-Satire "Hochdeutschland" (2018) getan; nun dreht er die Schraube noch weiter, etwa in der Darstellung der Firmenchefin von Omen, die Wert auf deutschen Riesling legt, einmal als "Vandalenfürstin" beschrieben wird und die Häufung von Anglizismen in Rundmails ihrer Firma als "Unterklassemarker" tadelt. Zudem macht sie in Reden heikle literarische Anspielungen, etwa auf Ernst Jüngers "Burgunderszene".
Der Entwickler Joachim (der auch Dieter programmiert hat und als Mastermind von Omen gelten kann) scheint im Herzen deutscher Romantiker und nur durch Zufall in der Techbranche gelandet zu sein; der jüngere Kollege Daniel dagegen möchte dem Unternehmen die Hippie-Flausen austreiben und hat Phantasien der Aufrüstung Deutschlands mit einer atomaren Zweitschlagwaffe, um "dem Russen" etwas entgegenzusetzen.
Ähnlich wie in den Romanen von Christian Kracht führt die Frage nach dem deutschen Wesen mitunter zu äußerst zynischen Reflexionen und historischen Anspielungen, es wird - manchmal überdeutlich - ausgemalt, dass die vermeintlichen Software-Hippies im Grunde Faschisten sind oder zumindest totalitäre Züge haben. Das zeigt sich zum Beispiel in dem Handlungsstrang, der das lesbische Programmierer-Paar Frauke und Nilufar auf die Suche nach den besten Spermien zur Zeugung des Wunschkindes gehen lässt.
Insbesondere in der Darstellung von Hedonismus und Dekadenz hat Schimmelbusch Ähnlichkeiten mit Michel Houellebecq. So fragwürdig der einordnende Vergleich mit einem anderen Schriftsteller literaturkritisch sein mag, scheint er hier zwingend, und zwar in der Zuspitzung zu einem großen Lob: So nah an die Meisterschaft des französischen Romanciers unserer Gegenwart ist vielleicht noch kein deutschsprachiger Autor gekommen. Zudem ist "Karma" auch als Genrestück der "Climate Fiction" sehr gelungen.
Markenzeichen von Houellebecq (und auch Bret Easton Ellis und Kracht) ist eine Erzählstimme, die genüsslichen Zynismus ausstellt. So auch hier, besonders bei der Darstellung industrialisierten Tötens von Mensch und Tier, über ästhetische und moralische Grenzen hinaus. Die Frage, wer die prekären Gedanken eigentlich ausspricht, ist auch bei Schimmelbusch zentral. Aber bei "Karma" ist die Besonderheit, dass es (teilweise) auch eine künstlich generierte Stimme sein könnte, die darin erzählt und in einer schließlich dramatischen Zuspitzung hermeneutische Rätsel aufgibt. JAN WIELE
Alexander
Schimmelbusch:
"Karma". Roman.
Rowohlt Verlag,
Hamburg 2024.
304 S., geb.
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