Eine Musikgeschichte (fast) ohne Männer
In der Geschichte der klassischen Musik spielen Frauen noch immer kaum eine Rolle - dabei gab es bereits in der Antike die ersten Komponistinnen. Aliette de Laleu erzählt in eindringlichen Porträts ihre Geschichten und bringt uns das Schaffen so unterschiedlicher Persönlichkeiten wie Sappho, Hildegard von Bingen, Clara Schumann, Ethel Smyth oder Kaija Saariaho nahe. Und sie erklärt, warum Komponistinnen oft die ihnen zustehende Anerkennung versagt blieb.
»Ein brillantes und lehrreiches Buch. «
Anne-Laure Poisson, Le Point
Besprechung vom 10.12.2024
Ehemänner sind nicht immer schuld
Aliette de Laleu widmet sich quer durch die Jahrhunderte Frauen der Musikgeschichte
Nach vielen Jahren der Forschung und des Einsatzes zahlreicher Musikerinnen und Musiker tut sich etwas in der Konzertlandschaft. Bestes Beispiel ist das von dem Tenor Julian Prégardien Anfang Oktober veranstaltete Festival "Liedstadt Hamburg" mit kostenlos zugänglichen Kurz- und Hauptkonzerten an ungewöhnlichen Orten sowie einer vorgeschalteten Veranstaltung in der Reihe "Zweimal hören" in der Hamburger Körber-Stiftung. Dort stellte Prégardien gemeinsam mit der forschenden Pianistin Marlene Heiß einem staunenden Publikum unbekannte Lieder und Klavierstücke der 1924 in Hamburg geborenen, ins amerikanische Exil getriebenen Ruth Schonthal (Schönthal) vor. Auch in den anderen Konzerten waren Kompositionen von Frauen mit großer Selbstverständlichkeit präsent.
Angesichts zahlreicher unbekannter Namen wächst der Informationsbedarf rasant. Der Open-Access-Zugang sorgfältig recherchierter Lexika wie der Forschungsplattform "Musik und Gender" im Internet oder des Sophie Drinker Instituts macht es möglich, sich einzulesen. Nun liegt im Reclam Verlag ein schmales Büchlein vor, das auf Deutsch den Titel trägt: "Komponistinnen: Frauen, Töne & Meisterwerke". Kein Mensch käme auf die Idee, ein Buch über männliche Komponisten in gleicher Weise zu betiteln; die Aufmachung lässt ein Kinderbuch erwarten. Anders die französische Originalausgabe. Da lautet der Titel: "Mozart était une femme. Histoire de la musique classique au féminin". Er ist als Provokation gemeint, wie die Autorin, die Journalistin Aliette de Laleu, in ihrer Einleitung klarstellt. Ihr geht es nicht um Wolfgang Amadé, sondern um seine Schwester Maria Anna als Beispiel für das Verschwinden von zu ihrer Zeit öffentlich präsenten Musikerinnen aus dem kulturellen Gedächtnis. Diesem Phänomen gilt das Hauptaugenmerk der Autorin.
Das Buch ist kein Nachschlagewerk (es fehlt sogar ein Register), sondern versucht eine zusammenhängende Darstellung quer durch die Jahrhunderte von der Antike bis heute. Diesen großen Zeitraum und sehr unterschiedliche Kompositionskontexte in verschiedenen Ländern durcheilt die Autorin auf knappem Raum in einem journalistisch flott geschriebenen, wenn auch teils ungeschickt übersetzten Text. Wiederholt verweist sie auf aktuelle Forschungsliteratur. Das ist hervorzuheben in einer Zeit, in der das publizierte Wissen anderer zum Selbstbedienungsladen zu verkommen droht.
Die sechs Kapitel, die auch Überlegungen zur Aufführungspraxis miteinbeziehen, werden durch Musikempfehlungen ergänzt. Die Schreibperspektive der Autorin, Redakteurin bei Radio France, ist auf ihr eigenes Land gerichtet. Das lässt sich auch sachlich begründen: Musikerinnen hatten in Frankreich sehr viel früher Zugang zu öffentlich finanzierter professioneller Ausbildung als etwa in Deutschland. Einige Frauen haben ein breit gefächertes OEuvre hinterlassen, obwohl sie sich wie Frauen überall mit geschlechtsspezifischen Vorurteilen auseinandersetzen mussten.
Leider hat die Autorin nur sporadisch Notiz von deutschsprachiger Forschung genommen, noch nicht einmal bezogen auf französische Komponistinnen wie Louise Farrenc, Pauline Viardot oder Augusta Holmès. Differenziertere Betrachtungen bleiben oft auf der Strecke. Ein Beispiel: Weder hat Felix Mendelssohn Bartholdy seine Schwester, noch Robert Schumann seine Frau am Komponieren gehindert. Ganz im Gegenteil war beiden an einem kompositorischen Dialog gelegen. Bei den Geschwistern Mendelssohn ging es nicht um die Kompositions-, sondern um die Publikationsfrage (das ist in einem viel zitierten Brief mit dem Begriff Autorschaft gemeint), beim Ehepaar Schumann um die Zeit, die Clara Schumann für die eigene Arbeit zur Verfügung stand. Sie musste ihren gesamten Tagesrhythmus auf die Bedürfnisse ihres Mannes sowie die einer wachsenden Kinderschar einstellen. Im Übrigen sah sie sich in erster Linie als Pianistin und kämpfte zu allererst um Zeit zum Üben und um die Möglichkeit, auf Konzertreisen zu gehen.
Offensichtlich weiß die Autorin auch nicht, dass Fanny Hensel und Clara Schumann einander persönlich kannten und sich gegenseitig als Komponistinnen unterstützten. "Der Ruf dieses Trios" - gemeint ist das Klaviertrio von Fanny Hensel, das zudem erst nach ihrem Tod veröffentlicht wurde - musste also gar nicht erst an Clara Schumanns Ohr dringen, sie kannte es schon. Die Kapitelüberschrift "Geopferte Musen" erklärt ausgerechnet diese beiden Frauen zu Opfern, obwohl Fanny Hensel wie Clara Schumann als Musikerinnen und Komponistinnen in ihren jeweiligen Kontexten ein eigenständiges Profil entwickelt haben. Dies ist nur ein Beispiel für ein unreflektiertes Täter-Opfer-Denken, das dieses Buch in mancherlei Hinsicht merkwürdig altmodisch erscheinen lässt.
Anders als der deutsche Buchtitel erwarten lässt, geht es auf den Spuren der Philosophin Catherine Clément in dem Kapitel "Wie Frauen in der Oper sterben" um Weiblichkeitsbilder sowie unter der Überschrift "Legendäre Musikerinnen und tragische Schicksale" um historische Interpretinnen wie die Pianistin Clara Haskil. Am Schluss weitet sich der Blick auf schwarze Sängerinnen.
Alles in allem: Dieses einführende Büchlein appelliert an die Lust, unbekannte Musik zu entdecken. Die abschließend von der Autorin noch einmal aufgegriffene entscheidende Frage, warum die Kompositionen der erwähnten Frauen nicht Teil von Musikgeschichtsdarstellungen geworden sind, vermag allerdings der Hinweis auf "grimmige Misogynie" nur unzureichend zu beantworten. BEATRIX BORCHARD
Aliette de Laleu: "Komponistinnen". Frauen, Töne & Meisterwerke.
Aus dem Französischen von Petra Willim. Reclam Verlag, Stuttgart 2024. 173 S., geb.
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