Eine ländliche Gegend unweit der Stadt Klausenburg. Seit 1920 gehört die frühere ungarische Provinz zu Rumänien. Ende der 40er Jahre soll Schluss sein mit Elend und Rückständigkeit. Die bäuerliche Wirtschaft wird nach sowjetischem Vorbild kollektiviert, Dörfer und Siedlungen plattgemacht.
Vilmos, ein nachdenklicher, belesener Gärtner, der Rosen liebt und den die Frauen mögen, macht im Stalinismus Karriere, halb gegen seinen Willen. Aus seinem wilden Garten wird ein Versuchsgelände für Obstsorten und international wettbewerbsfähige Rosenzüchtungen, die dem isolierten Ostblockland Anerkennung verschaffen sollen.
Die Geschichte wird von vier Figuren erzählt - jede in ihrer unverwechselbaren Stimme geradezu physisch präsent. Da ist Kali, die junge Bäuerin, die ihrem prügelnden Mann davonläuft und als Dienstmädchen bei Vilmos lebt; da sind Annuska, eine 16-jährige Halbwaise, die sich in Vilmos verliebt, und ihre Schwester Eleonora, die ins Kloster geht und den politischen Säuberungen zum Opfer fällt.
Schweigen und erpresstes Geständnis, Lebensbeichte und Selbsterkenntnis, diese obsessiven, stockenden, eruptiven Redeformen machen den Reiz des Romans aus. Dank der sensationellen Übersetzung von Terézia Mora wird das neue Meisterwerk der ungarischen Gegenwartsliteratur auch auf Deutsch zum Ereignis.Besprechung vom 14.06.2022
Rosen brauchen viel Geduld
Zwischen Schweigen, Euphemismen und Wortfluten: Andrea Tompas Roman "Omertà"
Aller Anfang ist schwer, dieser ist es besonders. Zunächst freilich für die Übersetzerin Terézia Mora, denn sie musste den Dialekt und jene mündliche Rede, die von der ungarischen Minderheit in Rumänien in den Fünfzigerjahren gepflegt wurde, ins Deutsche bringen. Mora ist ihre Aufgabe einfallsreich angegangen. Es sind noch keine fünf Seiten gelesen, da bleibt das Auge an einem Wort hängen, das ähnlich nur von Wochenendausgaben einer Zeitung bekannt ist: "KommenS nicht herein, Tantchen, ist noch keine Melkzeit nicht, noch ne gute Stund, bis die Mülch fertig ist."
Die Frau, die da spricht, ist Kali. Zusammen mit Vilmos, Annuschka und Eleonóra bildet sie das Stimmenquartett in Andrea Tompas Roman "Omertà". Die 1972 geborene Autorin teilt den sprachlichen Hintergrund ihrer Figuren, die fast gleichaltrige Mora zieht sämtliche lexikalischen und grammatikalischen Register, schießt dabei aber gelegentlich über ihr Ziel hinaus. "Ich spiel mich ein bisschen mit der bunten Katze, um die Zeit totzuschlagen."
Die dreißigjährige Magd Kali, der fünfzigjährige Rosenzüchter Vilmos, die Bäuerin Annuschka, noch keine sechzehn, und ihre weit ältere Schwester Eleonóra, eine Nonne, die später im Gefängnis landet, thematisieren allesamt das Reden. Kali gibt offen zu: "Aber ich kann nicht still sein. Ich muss immer reden", und sie wirft Vilmos vor, seine Gefühle nicht in Worte fassen zu können, denn "er kann nicht reden, was ihn betrübt. So sind die Männer. Können nicht reden. Hat nicht gelernt, wie man was sagt. Und jetzt heult er nur und schweigt." Der Selfmade-Rosenzüchter sieht das natürlich nicht ein: "Man muss nicht so viel reden, meine ich. Wie langweilig die ganzen Sitzungen sind. Das viele Reden, während draußen die Rosen blühen." Sie schaut er gern an, für sie, die Blumen, hat er auch Geduld, nicht aber für die hohen Herren, die "reden nur immer, in Sitzungen, an der Universität, in Kommissionen, begrüßt, eröffnet, weiht ein, führt ein, begutachtet, macht die Expertise. Sie sitzen da, hören alle zu, denken, dass der große Mann die Weisheit in seinen Taschen daherbringt, dass es ein Wunder ist. Dabei bewegt er nur die Muskeln in seinem Gesicht und seine Stimmbänder." Annuschka unterhält sich notfalls mit ihrem Pferd Puju. "Er antwortet nicht, aber er schweigt schön", ihre Schwester hält lapidar für ihren Orden fest: "Bei uns ist es nicht üblich, dass wir über uns selbst sprechen."
Es wäre ein gelungener Kniff, einer genormten Sprache einen individuellen Ton entgegenzusetzen, allein, Tompa belässt es beim formalen Signal. Auch "unverblümt" wird in den vier Monologen nur beschönigt. Da rollen keine Panzer im Nachbarland ein, sondern da werden "die Dinge in Ungarn geregelt". Schöner hätte Chruschtschow es auch nicht ausdrücken können.
Die Geschichte aller Figuren ist rasch erzählt. Kali wird von ihrem Mann geschlagen, ihr gelingt die Flucht von zu Hause, auf dem Dienstbotenmarkt "kauft" Vilmos sie, schwängert sie, quartiert sie dann samt Kind in einem anderen Dorf ein, damit in seiner Akte ja nicht länger steht, dass sein "Privatleben ungeordnet ist", bändelt schließlich mit Annuschka an, die jedoch Mihály heiratet, mit ihm zwei Kinder hat und Eleonóra nach dem Gefängnis aufnimmt. Tompa gelingt das Kunststück, die Beziehung zwischen Vilmos und Annuschka tatsächlich als beiderseitig gewollt darzustellen. An einigen Stellen grundiert sie ihre Figuren ironisch, am Ende bleiben die vier jedoch eindimensional und opportunistisch, selbst der ungebremste Mitläufer kann es nicht mit Diederich Heßling aufnehmen: Dieser "Untertan" eignet sich in keiner Weise zur Demaskierung der Machthaber.
Zwei Momente gibt es, in denen sich - womöglich gegen Tompas Absicht - zwischen den Zeilen etwas entdecken lässt. Einmal bringt ein Genosse Vilmos eine Rose aus Frankreich mit, die in einer Art Sägemehl steckt. "Sakrament noch mal!", wettert er. "Ist jetzt nicht mal mehr die Erde gut genug für euch? Hat man stattdessen auch irgendwas erfunden?" Auch seine Pläne zum industrialisierten Obstanbau fußen einzig auf einheimischen Sorten: "Nichts Ausländisches. Damit schleppen wir nur die ganzen fremden und gefährlichen Krankheiten ein. Was wir hier herauszüchten, wird widerstandsfähig sein." Und als Eleonóra mal der Securitate, mal ihrem Beichtvater Auskunft über Sünden und Vergehen gibt, parallelisiert Tompa die beiden Strukturen. "Wir dienen. Wir schauen nicht in die Zeitung", behauptet Eleonóra. Willfährigkeit ist allenthalben erwünscht.
Diesen guten Ansätzen stehen fast beleidigende Redundanzen gegenüber. Vor allem den beiden Schwestern scheinen sie in die Wiege gelegt. Annuschka hofft auf einen Kinobesuch mit Vilmos. "Ich würde mir den Film gern anschauen. In Farbe! Er ist bunt gemacht. Ganz wie im Leben. Sowas hab ich noch nie gesehen. Ein farbiger Film aus der Sowjetunion." Und als Eleonóra bereits zum vierten Mal mit fast gleichem Wortlaut sagt: "Ich habe unterschrieben, alle müssen unterschreiben, denke ich mir. Dass wir über nichts reden, was im Gefängnis mit uns geschehen ist. Nichts. Omertà. Schweigebefehl", erfolgt eine der wenigen Repliken im Roman: ",Ti-ai semnat Omerta?', fragt mich oben in der Küche das eine Mädchen. Hast du den Schweigebefehl unterschrieben, fragt es, weil du dann bald freikommst."
Tompas Roman ist in Ungarn 2017 herausgekommen. Dort wird man die Anspielungen auf den Vertrag von Trianon oder auf den jungen Ceausescu vermutlich besser zu deuten wissen. Im Deutschen bleibt vage, ob die Unterdrückung der ungarischen Minderheit in Rumänien mit dem neuen kommunistischen System oder mit Folgen des Ersten Weltkriegs in Zusammenhang gebracht wird. Das liegt auch, aber nicht nur an fehlenden Anmerkungen. Letzten Endes hat Tompa ihren Stoff verschenkt.
Sie beobachtet ihre Figuren wie Vilmos seine Rosen. Das würde vielleicht noch funktionieren, wenn diese Figuren für eine Position einstehen würden, nicht wie die Geschöpfe des Blumenzüchters allein auf ihre Existenz reduziert wären. Knapp tausend Seiten kann man daher beobachten, wie Kunstwörter entstehen und hier und da ein Anakoluth erblüht. Einen Widerhall aber hinterlässt das Werk nicht. CHRISTIANE PÖHLMANN
Andrea Tompa: "Omertà". Roman.
Aus dem Ungarischen von Terézia Mora. Suhrkamp Verlag, Berlin 2022. 954 S., geb.
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