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Besprechung vom 30.11.2024
Wie der Frieden verloren ging
Andreas Rödder legt eine glänzende Studie zum Zerfall der Weltordnung von 1990 vor.
Von Heinrich August Winkler
Von Heinrich August Winkler
Die Zeiten, in denen die deutsche Geschichtswissenschaft sich zum Primat der Außenpolitik bekannte, sind seit Langem vorbei. Mitte der Sechzigerjahre begann sich die Gegenlehre vom Primat der Innenpolitik durchzusetzen, der zufolge die Außenpolitik eines Landes sich weitgehend aus seinen gesellschaftlichen Verhältnissen ableiten ließ. Die Folge war, dass die internationalen Beziehungen immer mehr aus dem Blickfeld der bundesdeutschen Geschichtswissenschaft gerieten: eine Kehrtwende, die viel damit zu tun hatte, dass die Bundesrepublik, anders als die anderen Staaten der europäischen Gemeinschaft, kein Nationalstaat war, sondern sich, um einen Begriff des Bonner Zeithistorikers und Politikwissenschaftlers Karl Dietrich Bracher aus dem Jahr 1976 zu zitieren, als "postnationale Demokratie unter Nationalstaaten" zu fühlen begann.
Für das wiedervereinigte Deutschland trifft Brachers Begriff nicht mehr zu. Doch es dauerte lange, bis die Zäsur des Jahres 1990 ihren Niederschlag in der deutschen Geschichtsschreibung fand. Der Mainzer Historiker Andreas Rödder gehört zu den Vertretern seines Fachs, die, ohne zum Primat der Außenpolitik zurückzukehren, die Wechselwirkung von innerer und äußerer Politik in den Mittelpunkt der Forschung rücken. Das gilt auch für Rödders jüngstes Buch "Der verlorene Frieden", eine glänzend geschriebene, scharfsinnige Analyse der Zeit "vom Fall der Mauer zum neuen Ost-West-Konflikt" (so der Untertitel) und eine der wichtigsten Neuerscheinungen auf dem Sachbüchermarkt dieses Herbstes.
Die Merkmale der "hegemonialen" Weltordnung von 1990 arbeitet Rödder heraus, indem er sie mit multipolaren Friedensordnungen vom Westfälischen Frieden von 1648 über den Wiener Kongress von 1814/15 bis zu den Pariser Vorortverträgen von 1919/20 und der bipolaren Ordnung von 1945 kontrastiert. Das entscheidende Dokument der Ordnung von 1990 ist die Abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland, der Zwei-plus-vier-Vertrag, der eine Lösung der deutschen Frage zu westlichen Bedingungen, nämlich die Zugehörigkeit des vereinten Deutschlands zur NATO, brachte.
Allzu peripher behandelt Rödder in diesem Zusammenhang die Charta von Paris vom November 1990, die von allen Mitgliedern der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, darunter die USA, Kanada und die Sowjetunion Michail Gorbatschows, unterzeichnet wurde. Sie enthielt ein Bekenntnis zu den Prinzipien der Demokratie, der nationalen Souveränität und der territorialen Integrität, zum Recht der freien Bündniswahl und zur friedlichen Beilegung von Konflikten. Eine Zeit lang schien es, es sei damit der Grund für eine trikontinentale Friedensordnung von Vancouver bis Wladiwostok gelegt.
Der "unipolare Moment", von dem der konservative amerikanische Kolumnist Charles Krauthammer 1990 sprach, war bekanntlich nur von kurzer Dauer. Er endete spätestens mit dem von Präsident George W. Bush ausgelösten völkerrechtswidrigen zweiten Irakkrieg von 2003, dem "Höhe- und Wendepunkt des Unipolarismus", den Rödder als Ausdruck amerikanischer Hybris wertet. Er verteidigt dagegen die Ost-Erweiterung der NATO, die dem Sicherheitsbedürfnis der ostmittel- und südosteuropäischen Staaten Rechnung trug, die gute Gründe hatten, sich vom postsowjetischen Russland bedroht zu fühlen. Putins Behauptung, die Staaten des atlantischen Bündnisses hätten damit ein gegenteiliges Versprechen aus dem Jahr 1990 gebrochen, tritt er, gestützt auf intensive Quellen- und Literaturstudien, mit überzeugenden Argumenten entgegen.
Den "Kipppunkt der Ost-West-Beziehungen" bildeten die Jahre zwischen 2003 und 2008. George W. Bush handelte gegen den Rat einiger seiner wichtigsten Berater und der amerikanischen Geheimdienste, als er auf dem NATO-Gipfel von Bukarest im April 2008 die Aufnahme der Ukraine und Georgiens in das westliche Bündnis forderte - zwei Ländern, die zu diesem Zeitpunkt in keiner Weise beitrittsreif waren. Der hartnäckige Widerstand gegen das Verlangen von Bush, der von der deutschen Kanzlerin Angela Merkel und dem französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy kam, führte dazu, dass der Gipfel mit einem faulen Kompromiss endete: Die NATO versprach der Ukraine und Georgien eine künftige Mitgliedschaft, lehnte aber verbindliche Schritte auf dem Weg zu diesem Ziel wie einen Membership Action Plan ab. Rödder urteilt: "Die Perspektive des Schutzes in unbestimmter Zukunft verband sich mit der konkreten Realität akuter Schutzlosigkeit - das Ergebnis war ein Glaubwürdigkeitsverlust, ein Zeitfenster für Russland und eine besonders prekäre Sicherheitslage für die Ukraine und Georgien, das sich ohnehin in einem ungelösten Territorialkonflikt mit Russland befand."
Mit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim und dem Beginn des hybriden Krieges im Donbass im Jahre 2014 war die Ordnung von 1990 endgültig gescheitert; der russische Präsident hatte sie in Makulatur verwandelt und damit jene "Zeitenwende" eingeleitet, die in manchen westlichen Ländern, obenan Deutschland, freilich erst im Februar 2022 als solche erkannt wurde, als Putin den Angriffskrieg gegen die Ukraine begann. Was sich in der Zwischenzeit herausgebildet hatte, war in Rödders Worten eine "Achse der Revisionisten", ein "globaler Osten", bestehend aus China als informeller Führungsmacht, Russland, Nordkorea, Syrien und Iran.
Die neue Weltordnung ist für Rödder, anders als für Herfried Münkler, nicht eine Pentarchie der großen Mächte - USA, China, Russland, Indien und EU -, also eine globalisierte Version des europäischen Konzepts der Großmächte, wie es nach dem Ende der napoleonischen Ära entstanden war. Sie ist vielmehr durch einen neuen Ost-West-Konflikt bestimmt: "Sie ist weniger hegemonial, aber ist nicht mehr multipolar. Die machtpolitischen Fakten sehen vielmehr so aus, dass eine Achse imperialer revisionistischer Mächte im globalen Osten den globalen Westen und die liberale Ordnung herausfordert."
Die Frage, ob der Westen den Zusammenbruch der Ordnung von 1990 durch eine andere Politik hätte verhindern können, beantwortet Rödder mit einer normativ begründeten These: "Die Gleichrangigkeit Russlands in der internationalen Ordnung und seine Gleichbehandlung durch den Westen waren (...) nur um den Preis der russischen Ungleichbehandlung seiner Nachbarn und ihrer Ungleichrangigkeit möglich." Die westlichen Demokratien hätten ihre Glaubwürdigkeit verloren, wenn sie sich auf dieses Ansinnen eingelassen hätten.
Als Konsequenz aus der neuen Weltlage bleibt dem Westen aus Rödders Sicht nur die Rückbesinnung auf das "containment" übrig, das der amerikanische Diplomat und Historiker George F. Kennan im Februar 1946 in seinem berühmten "Langen Telegramm" aus Moskau der Regierung der USA unter Präsident Harry S. Truman empfahl. Diese Politik erfordert eine glaubwürdige militärische Abschreckung und die Wahrung der Demokratie, also "Stärke nach innen und außen". Rödder fordert eine "wertebasierte Realpolitik, die Prinzipien und Realismus miteinander verbindet und die beiden Extreme vermeidet: die moralische Überhöhung einer wertegeleiteten Außenpolitik (...) ebenso wie den Zynismus einer rein interessengeleiteten Politik, die Polen und die baltischen Staaten nach 1991 der russischen Einflusssphäre überlassen hätte, um Konflikte mit Russland zu vermeiden".
Man mag darüber streiten, ob der vieldeutige, von dem liberalen Publizisten August Ludwig von Rochau 1853 geprägte, allzu oft auf bloße Machtpolitik reduzierte Begriff der Realpolitik hilfreich ist, um demokratischen Staaten als Richtschnur ihrer Außenpolitik zu dienen. Realismus statt Wunschdenken aber ist unabdingbar für die Selbstbehauptung des Westens. Gegen diese Einsicht haben viele westliche Demokratien und nicht zuletzt Deutschland in den Jahrzehnten nach der Epochenwende von 1989 bis 1991 immer wieder verstoßen, und das besonders, wenn es um die Wirtschaftsbeziehungen zu Russland ging: Es ist eine der großen Stärken des neuen Buches von Rödder, dass er die innenpolitischen Bedingungen westlicher Außenpolitik klar herausarbeitet und dabei vor scharfer Kritik an deutschen Illusionen im Hinblick auf Putins Russland nicht zurückschreckt.
"Auch von Donald Trump regierte Vereinigte Staaten stehen Europa ungleich näher als Putins Russland und Xi Jinpings China", heißt es auf den letzten Seiten des Buches. Das stimmt, bedarf aber einer Ergänzung. Dass Trump mit den Gründungswerten der USA nicht mehr viel verbindet, hat er in seiner ersten Amtszeit gezeigt. Das "transatlantische Jahrhundert", dass die amerikanische Historikerin Mary Nolan im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts beginnen lässt, dürfte mit der zweiten Amtszeit von Trump zu Ende gehen.
Für Rödders Erwartung, dass Europa eine "gestaltende Rolle als verantwortlicher Sprecher des globalen Westens" wahrnehmen wird, spricht angesichts der tiefen Zerrissenheit der EU der 27 zurzeit wenig. Worauf es ankommt, ist eine enge Zusammenarbeit der im weitesten Sinn liberalen Demokratien innerhalb und außerhalb der Europäischen Union. Rödder deutet diese Perspektive an, wenn er im letzten Kapitel seines Buches eine politische Führung Europas fordert, "die nicht allein aus Brüssel kommt, sondern wesentlich von den großen Staaten beziehungsweise einem Kern handlungsfähiger und handlungswilliger Staaten abhängt - und insbesondere von Deutschland". Die politische und die debattierende Klasse tun gut daran, sich mit Rödders Analyse intensiv auseinanderzusetzen.
Andreas Rödder: "Der verlorene Frieden". Vom Fall der Mauer zum neuen Ost-West-Konflikt.
C. H. Beck Verlag, München 2024. 250 S., Abb., geb.
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