Nicht nur Die Baugrube, auch das zweite Hauptwerk Andrej Platonows, der Roman Tschewengur, durfte in der Sowjetunion nicht erscheinen. Er habe nichts anderes versucht, als den Anfang der kommunistischen Gesellschaft darzustellen, schreibt der Autor an den mächtigen Maxim Gorki. Das Buch, so die Antwort, sei inakzeptabel, denn die Helden würden nicht als Revolutionäre, sondern als komische Käuze und Halbverrückte wahrgenommen.
Don Quijote und Sancho Pansa durchstreifen die Steppe Südrusslands: Sascha Dwanow hat als Heizer an den Kämpfen der Roten Armee gegen die Weißen teilgenommen. Kopjonkin ist auf dem Ross »Proletarische Kraft« unterwegs, auf der Suche nach dem Grab Rosa Luxemburgs, in deren Namen er Heldentaten begehen will. Soll das, was ihnen unterwegs begegnet, die Verwirklichung der sozialistischen Idee sein? Erst nach der Trennung von Kopjonkin kommt Sascha auf die richtige Spur. In der Steppenstadt Tschewengur soll der Kommunismus bereits angebrochen sein.
Wie elf Bolschewiki und ihr Führer dort die Bourgeoisie vernichten und mit der bettelarmen Bevölkerung das Paradies aufbauen, wird als Geschichte eines gigantischen Scheiterns erzählt. Melancholie und Dunkelheit liegen über der Natur und der Stadt: »In die Tiefe der angebrochenen Nacht gingen ein paar Menschen aus dem Kommunismus ins Ungewisse.«
Besprechung vom 28.06.2018
Dem Ingeniör ist's doch zu schwör
Zwischen Ethos, Eschatologie und Ennui: Andrej Platonows in der Sowjetzeit zunächst verbotener und jetzt wiederaufgelegter Roman "Tschewengur"
Das Tauwetter führte in der sowjetischen Literatur zu einer kleinen Gletscherschmelze, der große Klimawandel blieb jedoch aus. Er setzte erst mit der Perestrojka ein. Heute ist kaum noch erahnbar, mit welcher Gier man damals nicht nur in der ehemaligen UdSSR auf bisher weggesperrte Texte wartete. Lange waren sie im Giftschrank verschlossen gewesen, Platonows "Tschewengur" rund sechzig Jahre.
Die Texte von Andrej Platonow (1899 bis 1951) haben alle Phasen durchlaufen: Einige Erzählungen und Stücke wurden sofort veröffentlicht, andere nach Chruschtschows vorsichtigem Kurswechsel, "Die Baugrube" und "Tschewengur", beide als Roman rubriziert und nicht in Kapitel gegliedert, aber erst unter Gorbatschow. Der nun bei Suhrkamp wiederaufgelegte Roman "Tschewengur" hat dabei ein besonderes Schicksal, denn der Satz stand bereits, als die Publikation verboten wurde: Zwar sei Platonow, so Maxim Gorki in einem Brief 1929 an den Schriftsteller, ein "talentierter Mann", der über eine "höchst originelle Sprache" verfüge, doch: "Ob Sie es wollten oder nicht - aber Sie haben der Ausleuchtung der Wirklichkeit einen lyrisch-satirischen Charakter gegeben, was für unsere Zensur selbstverständlich unannehmbar ist."
Mit diesem Verdikt musste der Roman kühne Erwartungen wecken, als er 1988 erstmals in Russland erschien und 1990 in deutscher Übersetzung von Renate Reschke herauskam. Literaturwissenschaft, Kritik und Leserschaft haben sich im Grunde Gorkis Urteil angeschlossen, allerdings mit umgekehrten Vorzeichen: eine Dystopie und Aburteilung jeder kommunistischen Gesellschaft, ein Meilenstein der Literatur. Rezeptionsmotivisch öffnet sich hier eine Schatztruhe.
Der Einschätzung ließe sich zustimmen, reduzierte man "Tschewengur" auf die Farce: Als ein Fischer beschließt, "eine Zeitlang im Tod zu leben", kommt sein verwaister Sohn Sascha in eine Pflegefamilie, wird Ingenieur, geht auf Wanderschaft, schließt sich einem gewissen Stepan an, der auf seinem Pferd Proletarische Kraft auf der Suche nach dem Grab Rosa Luxemburgs ist. Sie gelangen nach Tschewengur, wo der Kommunismus mit todernster Einfalt eingeführt wurde. In diesem russischen Schilda darf einzig die Sonne arbeiten, wird der "Burshuis" verjagt oder erschossen, bis das Dorf leer ist und neues Proletariat hermuss. Die Frau ist freilich nur "in karger und menschlicher Form zulässig, nicht aber in voller Schönheit, denn die Schönheit der weiblichen Natur hat es schon im Kapitalismus gegeben".
Bei dieser Kritik an der "Revolution von oben" geht es um die Frage, wie öffentlich ein gesellschaftlicher Umbruch verhandelt werden darf, wenn er vor (vermeintlich) feindseligem Publikum gewagt wird. Simone de Beauvoir hat dies in "Die Mandarins von Paris" ebenso präzis wie zeitlos gültig durchgespielt. Platonows Farce versinkt jedoch in einem zähen Textbett, das reichlich religiös gepolstert ist. Fischer und Zimmerleute - der Ingenieur als Schöpfer? -, verlorene Söhne und Marienverehrung, Höllengrund und Wiederkehr des Herrn. Dem Don Quijote Stepan wird Sascha als Hiob zur Seite gestellt.
Platonow war selbst Ingenieur und - anfangs? - überzeugter Kommunist, er war gläubig und von der Philosophie Nikolai Fjodorows (1829 bis 1903) fasziniert, der ein allgemeines Auferstehungsszenario entworfen hatte. Und Platonow war integer. "Tschewengur" setzt vor dem Ersten Weltkrieg ein, und lange bevor von Fünfjahresplänen die Rede ist, werden die Menschen mit Vierjahreshungersnöten auf die Probe gestellt. Erdvernichtung als Voraussetzung für die Erdauferstehung aus Ruinen? Die Menschen folgen jedem Sarg "ohne Gefühl im Gesicht, selber bereit, unausweichlich zu sterben im Alltag der Revolution". Seine beiden Romane brachten Platonow in echten Konflikt mit der Macht, auch wenn er in "Tschewengur" möglicherweise eine Symbiose von Kommunismus und Christentum im Hinterkopf hatte; Vertröstungen auf die strahlende Zukunft sind immerhin beiden Konzepten gemein.
"Jede Zeit verdient ihre eigenen Übersetzungen", hat Swetlana Geier behauptet. Renate Reschke ist ihre fast zwanzig Jahre alte, aus anderer Zeit stammende Transposition für die Wiederauflage noch einmal durchgegangen. Wie sich zeigte, hatte sie Bestand. Ihre Interpretation funkelt auch heute. Allein, ihr Glanz vermag nicht über die literarischen Schwächen des Originals hinwegzutäuschen. Dem Roman ist ein Gespräch zwischen den beiden Schriftstellern Ingo Schulze und Dzevad Karahasan beigegeben. Letzterem ist zuzustimmen, wenn er Platonows Werk als "Mythourgie" definiert, als Arbeit am und mit dem Mythos, und es "vom literarischen Erzählen im engeren Sinne" abgrenzt. Das indes macht aus dem Meilenstein der Literatur einen weltanschaulichen Traktat.
CHRISTIANE PÖHLMANN.
Andrej Platonow: "Tschewengur - Die Wanderung mit offenem Herzen". Roman.
Aus dem Russischen von Renate Reschke. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. 581 S., geb.
© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt.Es wurden noch keine Bewertungen abgegeben. Schreiben Sie die erste Bewertung zu "Tschewengur" und helfen Sie damit anderen bei der Kaufentscheidung.