Ein Sunday Times-Bestseller
London, Donnerstag, 20. Mai 2021, die Temperatur beträgt 16 Grad, es ist heiter, später gibt es Schauer.
Als Campbell Flynn, 52 Jahre alt und auf der Höhe seines Ruhms als öffentlicher Intellektueller, an diesem Tag aus dem Taxi steigt, trägt er sich noch mit Gedanken an ein neues publizistisches Projekt. Aus ärmlichen Verhältnissen stammend zählt er heute zur Elite des Vereinigten Königreichs: seine Frau, die Tochter einer Gräfin, sein bester Freund, ein Industrieller, sein Schwager, ein Politiker mit Einfluss, sein Leben getaktet von Vorträgen, Vernissagen und Society-Events. Seine Schwäche, seine Eitelkeit und der Umgang mit dem lieben Geld. Sein Widersacher: sein liebster Schüler.
Im Laufe eines aufsehenerregenden Jahres wird ein Netz von Verbrechen, Geheimnissen und Skandalen aufgedeckt; und Campbell Flynn, das Drehkreuz dieses monumentalen Gesellschaftsromans, der seine Fühler ebenso in zwielichtige Fabriken wie in vornehme Gemächer, ebenso in die Köpfe illegaler Immigranten wie in die Häupter ausbeuterischer Kapitalisten und korrupter Parlamentarier ausstreckt, Campell Flynn, dieser Inbegriff des liberalen, gebildeten weißen Mannes, wird fallen wie die Ära, die er verkörpert.
»Ein Meisterwerk . . . außergewöhnlich . . . der beste und größte Roman, den irgendwer in diesem Land seit langer Zeit geschrieben hat. « John Lanchester
»Sein Opus magnum, mehr als nur ein großartiges Buch« Joshua Cohen
Besprechung vom 14.09.2024
Wenn die Bühne zu voll wird, muss eine Figur dran glauben
Wer legt hier wen aufs Kreuz? Andrew O'Hagans Großstadtroman aus dem gebeutelten Großbritannien der Gegenwart
Roman zur Lage der Nation, "state of the nation novel": So heißt im Englischen ein Genre, das sich nichts Geringeres vornimmt, als den gesellschaftlichen Zustand des gesamten Landes hier und jetzt zwischen zwei Buchdeckel zu bannen. Populär wurde es im neunzehnten Jahrhundert, als viktorianische Großerzähler wie Charles Dickens, George Eliot oder Anthony Trollope mit ihren Geschichten verschlungener Schicksale soziale Diagnosen stellten, die ihre Zeit zusammenfassen sollten. Programmatisch dafür ist Trollopes Roman "The Way We Live Now" von 1875, der diesen Anspruch schon im Titel stellt und doch im zentralen Wörtchen "Wir" ein Zugehörigkeitsgefühl behauptet, das eigentlich infrage steht. Denn dass von der Nation so ausführlich erzählt werden muss - es versteht sich, dass solche Romane immer umfangreich ausfallen -, zeigt ja schon, dass sie in einer tiefen Krise steckt.
Großbritannien im Sommer 2021. Der Brexit ist unlängst vollzogen, die Wirtschaft am Boden, die Pandemie grassiert in ihrer Delta-Variante, das Land schwankt zwischen Lähmung, Schwindel und Betriebsamkeit, die Regierung führt ein tolldreister Premier, der kaum noch anders als ein Clown gesehen wird und alle anführt: Besseres Material für einen Roman zur Lage der Nation lässt sich kaum erfinden noch ersehnen. Seit der Finanzkrise vor sechzehn Jahren trug sich der Londoner Autor Andrew O'Hagan nach eigenem Bekunden mit der Idee zu diesem Buch, vor drei Jahren fand er das perfekte Setting, um daraus ein Achthundertseitenepos der britischen Gegenwartsgesellschaft zu machen, das kein aktuelles Problem auslässt und sämtliche sozialen Schichten streift und kreuzt, vom Mainstream und Adel bis zum Untergrund und Abgrund, und dabei der Frage nachgeht, worin diese sich noch unterscheiden lassen (F.A.Z. vom 12. September).
Nicht weniger als 59 Figuren nennt das Personenverzeichnis, das wie in den Gesellschaftsromanen des neunzehnten Jahrhunderts am Anfang steht, mit Namen. Das Spektrum reicht von Parlamentarierinnen, herzoglichen Hoheiten und Lords über Industriebarone, Verleger, Literaturagenten, Chefredakteure, Kolumnistinnen, Akademikerinnen, Psychotherapeutinnen, Umweltaktivisten, Schauspielern, Supermodels, Modedesignerinnen und DJs bis hin zu Taxi- und Truck-Fahrern, Rappern, Dealern, russischen Oligarchen, polnischen Arbeitsmigranten, Menschenhändlern, halbseidenen Kunsthändlern und ehrbaren Textilarbeitern. In diesem Buch ist so ziemlich alles vertreten, was man sich denken und für einen prallen Plot nur wünschen kann.
Den liefert der Roman tatsächlich. Knotenpunkt der weitschweifigen Handlung bildet ein Londoner Kunsthistoriker und öffentlicher Intellektueller namens Campbell Flynn, Bildungsaufsteiger aus dem schottischen Arbeitermilieu (wie sein Autor), Anfang fünfzig, bestens vernetzt, beruflich erfolgreich, privat kriselnd, der sich zunehmend bewusst wird, was es heißt, ein Denker zu sein, dem die Gedanken ausgehen. So verbündet er sich mit einem aufgeweckten Studenten, Sohn einer dem Bürgerkrieg entflohenen Äthiopierin, der ihn auf neue Ideen bringen und in die Welt der jungen Generation einführen soll.
Auf diese Weise macht er sich mit deren Anliegen vertraut, darunter Kampagnen gegen den Klimawandel oder zur Restitution von kolonialer Raubkunst, aber auch mit Kryptowährung und dem Darknet. Flynn sieht den jungen Mann als seinen Forschungsassistenten und bemerkt zu spät, dass es sich umgekehrt verhält. In Wahrheit wird der Assistent zum Drahtzieher, der den Professor ausforscht und abhört, hackt und stalkt, beklaut und rückhaltlos instrumentalisiert, um kriminelle Machenschaften in der High Society, mit der Flynn verkehrt, zu enthüllen. Immer mehr kommt dessen bürgerliche Existenz ins Straucheln und, binnen eines Jahres, zu Fall. Im Sommer 2022, wenn die Romanhandlung endet, steht er vor den Trümmern seines Lebens.
Um diesen Erzählstrang gruppieren sich etliche weitere, zum Teil eher locker verknüpft. Sie erzählen von diversen Vater-Sohn-Konflikten, von den fatalen Einlassungen englischer Eliten mit russischen Milliardären, von illegaler Arbeitsmigration, Ausbeutung und Menschenhandel, von Bandenkriminalität, toxischer Männlichkeit und Vergewaltigung, von rassistischer Justiz und investigativem Journalismus. Der Autor, Jahrgang 1968, kommt selbst aus dem Journalismus und ist mit packenden Reportagen beispielsweise zum Großbrand einer Londoner Mietskaserne, zur umstrittenen Identifizierung des Bitcoin-Erfinders oder über Julien Assange, mit dem er als Ghostwriter zusammengearbeitet hat, hervorgetreten.
Auch "Caledonian Road", sein siebter Roman, hat durchaus Reportagequalität und lässt an vielen Stellen offen, wo Dokumentarisches in Erfundenes übergeht. Das geht in einem realistischen Roman in Ordnung, zumal einem, der sich augenzwinkernd in die Tradition der viktorianischen Erzähler stellt und auch deren Attitüde großmeisterlicher Überschau wie moralischer Gesellschaftskritik nachahmt. Erzählt wird routiniert und in rasantem Tempo, in ständig wechselnder szenischer Anordnung, mit starken Dialogen, oft pointierend und pointenreich, zuweilen grell überzeichnet und über weite Strecken in rundheraus satirischer Zuspitzung (auch dies ein Merkmal, das O'Hagan von Charles Dickens übernimmt). Das alles liest sich gleichermaßen amüsant wie unterhaltend, und wenn man zwischendurch den Faden verliert, hilft das Personenverzeichnis wieder auf die Sprünge.
Dabei hat es den Anschein, als habe sich der Autor selbst gelegentlich im labyrinthischen Erzählkosmos verirrt. Etliche Handlungsstränge verlaufen im Sand, andere werden kurzerhand durch mysteriöse Exekution zentraler Figuren abgeschnitten, auch randständige Figuren kommen gewaltsam und beiläufig zu Tode, als müsse das Spielfeld bereinigt werden. Sogar der Fall der Hauptfigur Flynn wird letztlich nicht etwa durch Verstrickung in dunkle Affären herbeigeführt, sondern durch eine eigentlich banale Angelegenheit. Wohlwollend betrachtet lässt sich daraus vielleicht die Erkenntnis ziehen, dass die große Schicksalsordnung, wie sie im neunzehnten Jahrhundert noch beschworen werden mochte, in der jeder Fehltritt moralisch aufzurechnen ist, längst nicht mehr trägt. Vielleicht aber taugt auch das Modell der Großerzählung zur Lage der Nation nicht mehr. O'Hagan spielt damit versiert und witzig und packt so ziemlich jedes heiße Eisen an, das sich ihm bietet. Doch die schiere Anhäufung brisanter Themen überfordert den Roman und schwächt seine Wirkung ab.
Die bewährten Übersetzer Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié leisten wieder Großes für die deutsche Fassung dieser vielstimmigen Vorlage. Der Romantitel übrigens verweist auf eine reale Straße in der nördlichen Londoner Innenstadt. Die Lektüre fühlt sich in der Tat wie ein Großstadtspaziergang an: kurzweilig, facetten- und erfahrungsreich, ein wenig anstrengend und letztlich orientierungslos. TOBIAS DÖRING
Andrew O'Hagan: "Caledonian Road". Roman.
Aus dem Englischen von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié. Ullstein, Berlin 2024. 784 S., geb.
© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt.