Ich bin total begeistert von diesem sehr kurzweilig geschriebenen Buch, weil ich auf unterhaltsame Weise viel Neues über die Familie Mann erfahren habe. Vor allem wusste ich kaum etwas über die Vielschichtigkeit der Töchter Monika und Elisabeth, über Monika eigentlich gar nichts. Ein Umstand, der sich aus diesem aufschlussreichen Buch heraus erklärt. Annette Seemann inspiriert mich zu weiterer Lektüre von den und über die Manns.
An die sechs Kinder, jeweils im Zweiergespann paarweise mit einigen Jahren Abstand zu den nächsten beiden geboren, wurden von ihren Eltern sehr hohe Erwartungen gestellt. Der Leistungsanspruch, den Thomas und Katia Mann hatten, war außergewöhnlich hoch. Da war es ein Glück, dass alle ihre Kinder auf musischem und literarischem Gebiet außerordentlich begabt waren. Diese Begabungen wurden von den Eltern entsprechend gefördert. Das war es dann aber auch. Die Liebe der Eltern war sehr ungleichmäßig auf die Kinder verteilt, ebenso Lob und Anerkennung. Thomas Manns Belange hatten stets Vorrang vor den Bedürfnissen der Kinder. Katia, die als Privatsekretärin und Impressario für ihren Mann agierte, war mit den zusätzlichen Aufgaben der Haushaltsführung und Kindererziehung häufig überfordert. Diesen Umstand nutzten vor allem Erika und Klaus bereits in der frühen Pubertät aus und entzogen sich der Kontrolle der Eltern völlig, so dass man hier von Wohlstandsverwahrlosung sprechen kann.
Mit vielen Details gespickt zeichnet AS den Weg der Familie Mann über 100 Jahre vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis zum Tod der letzten Mann-Tochter Elisabeth im Jahr 2002 nach. Erika und Elisabeth sind die Lieblingskinder des Vaters. Alle drei Mädchen bewundern ihn sehr und bringen ihm viel Liebe entgegen.
Monika, die mittlere Tochter, hat es jedoch sehr schwer in dieser Familie, denn sie entspricht nicht den Vorstellungen der Eltern, und deren Desinteresse an ihr färbt auf die Geschwister ab. Das zeigt sich in diverser Hinsicht. Sie ist nicht androgyn wie ihre Schwestern, sondern sehr feminin in Aussehen und Verhalten. Sie kennt keinen Standesdünkel, ein Merkmal, mit dem sie besonders bei Katia und Großmutter Pringsheim sehr aneckt. Wahrscheinlich ist sie das authentischste Kind der sechs, denn sie verstellt sich nicht, spielt keine Rolle, auch nicht, um zu gefallen. Doch das macht es ihr schwerer als den anderen, ihren Weg im Leben zu finden. Am Anfang des Krieges erleidet sie ein schweres Trauma und benötigt Jahre, um sich davon zu erholen. Aber weder ihre Eltern noch ihre Geschwister, mit Ausnahme von Klaus, der ihr gegenüber positiv gesinnt ist, sind bereit, das anzuerkennen und verweigern Verständnis und Hilfe in dem Umfang, in dem sie beides bräuchte. Kurzum, es ist egal, was Monika macht, sie kann nichts richtig machen.
Erika ist zeitlebens eine Getriebene und zeichnet sich durch ein extrem hohes Arbeitspensum aus. Sie ist zunächst Schauspielerin, gründet dann ein Kabarett, wird Journalistin, Autorin und Nachlassverwalterin ihres Vaters und Bruders. Im Exil wird sie vor allem für den Vater unentbehrlich. Elisabeth, die Jüngste, muss sich nicht beweisen, sie wird um ihrer selbst Willen geliebt und lebt ganz nach ihren Vorstellungen. Auch ihr Leben ist reich und außergewöhnlich: sie befasst sich intensiv mit Meeresbiologie, ist die einzige weibliche Mitbegründerin des Club of Rome und erhält in Kanada eine ordentliche Professur für Seerecht.
Das Verhalten der Eltern Mann gegenüber Monika und in Teilen auch gegenüber den Söhnen, um die es hier jedoch nicht primär geht, hat mich erschüttert. Finanziell haben sie sich nicht lumpen lassen, aber emotional kann ich diese Eltern nur als verkümmert bezeichnen. Ich habe Katia Manns ungeschriebene Memoiren nicht gelesen, erfahre aber hier, dass Monika dort mit keinem Wort erwähnt wird. Als ob es sie gar nicht gäbe. Und auch Thomas Tagebuchaufzeichnungen müssen für sie und Michael erschütternd gewesen sein. Was macht das mit einem Kind? Erika, die Nachlassverwalterin, hätte das alles gerne unter der Decke gehalten, aber irgendwann hat die langmütige Monika nicht mehr mitgespielt und sich gleichberechtigt geäußert. Aber das lest am besten selbst. Es ist sehr, sehr spannend.
AS hat das Bild einer dysfunktionalen Familie gezeichnet, anders kann ich das nicht definieren, und damit hat sie den großen Thomas Mann in gewisser Weise von seinem Sockel gestoßen. Als Autor war er genial, als Mensch jedoch nicht, und als Vater schon gar nicht. Und Katia war leider kein ausgleichendes Element, denn sie stand ihm diesbezüglich in Nichts nach. Man könnte sagen, sie hatten sich verdient.
Das Buch enthält eine Reihe von Familienfotos, die auch einen optischen Einblick in das Familienleben gewähren.
Annette Seemann ist promovierte Germanistin. Sie hat diverse Bücher über Weimar geschrieben, wo sie auch lebt. Auch mit Peggy Guggenheim, Frida Kahlo und Schillers Schwester Christophine hat sie sich beschäftigt.