Besprechung vom 24.02.2020
Anleitung zum Freundlichsein
Gut getröstet, Löwe: Ein Bilderbuch fragt, was sich verändert, wenn man offen, rücksichtsvoll und nett miteinander umgeht. Die Antwort: alles.
Das Wörtchen "nett" wird von Erwachsenen fast nie mit Respekt im Munde geführt. Unter den deutschen Adjektiven gehört es in die Top-Auswahl der Diminutiv-Talente: Es wirkt mickrig, schüchtern und etwas verloren. Wäre es lebendig, man müsste es zwischendurch tätscheln, damit es sein Selbstbewusstsein nicht komplett einbüßt.
Vor neun Jahren ist ein Buch erschienen, das schon im Titel mit allem, was nett ist, kurzen Prozess macht: "Nett ist die kleine Schwester von Scheiße". Thema: "Danebenbenehmen und trotzdem gut ankommen". Dabei weiß jeder, dass sich interessante Danebenbenehmer schnell in ätzende Nervensägen verwandeln. Auch unter romantischen Bedingungen ist es mit der Nettigkeit so eine Sache, was Fragen wie diese belegen: "Flirtet er, oder ist er einfach nur nett?"
Es macht einen großen Unterschied, ob man das "nur" stehen- oder weglässt. "Einfach nur nett" klingt nach Langeweile, "einfach nett" nach Anerkennung. Zu Recht, denn sich einfach nett zu verhalten bereitet vielen Leuten enorme Schwierigkeiten (siehe Straßenverkehr, Online-Foren, verkaufsoffener Sonntag). Insofern trägt Alison Greens Buch den richtigen Titel, handelt es sich doch um einen längst fälligen Ratgeber für eine unterschätzte Haltung. Daran erinnert der Illustrator und Autor Axel Scheffler im Vorwort, wenn er schreibt, wir sollten uns "klarmachen, dass schon kleine Dinge etwas verändern können".
Die Helden sind auf jeder Seite andere: Affen und Vögel, Hunde und Eichhörnchen. Aber auch Menschen - jene, die gemalt wurden, und jene, die gemalt haben. Achtunddreißig namhafte Illustratoren sind angetreten, um mal in grober Schraffur, mal mit fein geschwungenem Strich zu zeigen, wie eine alltägliche Lebenskunst der Selbstbescheidung und Rücksichtnahme aussehen könnte.
Eine der wichtigsten Tugenden ist es, anderen zuzuhören. Bei Chris Haughton leihen ausgerechnet zwei Löwen einer weinenden Antilope ihr Ohr. Das Arrangement und die Farbpalette sind auf das Nötigste reduziert, ein Hintergrund fehlt. Seht her, will uns diese Ästhetik sagen, ihr müsst nicht herumdeuten, Text und Bild sagen alles ganz direkt. "Es gibt viele Arten, nett zu sein", steht über der Illustration - hier sind sogar verschiedene Arten nett zueinander.
Davon profitiert auch der Charme von Lucia Gaggiottis Plädoyer für Geduld. Unter sengender Sonne lässt eine Schildkröte einem Fuchs mit gebrochenem Bein den Vortritt beim Eismann. Prompt regt sich in der Warteschlange Widerstand, der Dackel schimpft, der Elefant trötet, das Nashorn schaut grimmig drein und stemmt die Fäuste in die Hüften. Dafür lächeln die zwei neuen Freunde. Obwohl alle Tiere in dem Moment dargestellt sind, da ihre Emotionen am deutlichsten zutage treten, erzählt das Bild die Geschichte eines Prozesses: Die Schildkröte war auf der Suche nach einer Haltung, wurde fündig und nimmt sich nun selbst in die Pflicht gegenüber der Gemeinschaft.
Ähnlich verhält sich jemand, der Fremdsprachen lernt, um seine Mitmenschen besser zu verstehen. Davon zeugt Beatrice Alemagnas Wimmelbild voller Charakterköpfe und Sprechblasen, die mit dem Wort "Hallo" in unterschiedlichen Sprachen gefüllt sind. Keine dieser Figuren hat weltanschauliche Claims abgesteckt, hier herrschen weder Redeverbote noch Berührungsängste. Dasselbe gilt für David Barrows vorsichtigen Waschbären, der einem Grizzly mit Partyhut und Muffin in den Tatzen die Tür öffnet: "Wenn du niemanden hereinlässt, erfährst du auch nie, was du verpasst." Es könnte nämlich nett werden, einfach nett.
KAI SPANKE
Alison Green:
"Einfach nett". Ein Buch über das Freundlichsein.
Vorwort von Axel Scheffler, Bilder von 38 Illustratoren. Aus dem Englischen von Maren Illinger. Beltz & Gelberg, Weinheim 2020. 46 S., geb., 12,95 [Euro]. Ab 6 J.
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