Besprechung vom 18.08.2020
Wie optimieren wir künftig unsere Babys?
Barbara Bleisch und Andrea Büchler betrachten die Frage nach dem Kinderwunsch von allen Seiten
In Zeiten der Pandemie ist auch die Geburt eines Kindes ein ungewöhnlicher Vorgang. So hatten Väter in einige italienische Kreißsäle keinen Zutritt, weswegen die Entbindung per Livestream in den Nachbarraum übertragen wurde. Wunscheltern durften mitunter nicht in die Heimatländer der Leihmütter reisen, so dass Bilder von dicht an dicht stehenden Bettchen mit bestellten Säuglingen die Runde machten. Was es heißt, Kinder zu kriegen und Kinder zu haben, hat durch Corona neue Wendungen erfahren.
"Kinder wollen" von Barbara Bleisch und Andrea Büchler ist insofern tagesaktuell: Wie viel "Autonomie und Verantwortung" - so der Untertitel - sind angezeigt, wenn es um mehr als das eigene Wohlbefinden geht? "Die philosophische Betrachtung so grundlegender Fragen wie der nach dem Kinderwunsch", argumentieren denn auch die Autorinnen, "problematisiert den Freiheitsraum, den das Recht dem Individuum zugesteht."
Kernanliegen des Buchs ist die "reproduktive Autonomie", also das Recht auf Selbstbestimmung und die Freiheit von Fremdbestimmung im Streben nach Nachwuchs - und deren ethische sowie rechtliche Einordnung. Den Leser erwartet eine umfassende, klar geschilderte Wanderung durch moralisch vermintes Terrain: Gibt es ein Recht auf ein gesundes Kind? Wie verhalten sich Kindswohl, Kinderwunsch und die körperliche Unversehrtheit der Schwangeren zueinander? Wann kippt eine legitime Dienstleistung, die zum Spross verhilft, in eine bedenkliche Kommerzialisierung der "Ware Kind"?
Als Antworten bieten die Philosophin Bleisch und die Rechtswissenschaftlerin Büchler leicht lesbare Zusammenfassungen vielfältiger Drittmeinungen, garniert mit zurückhaltend eingeflochtenen eigenen Einschätzungen. Wenige Bereiche lässt der Text unberührt: Die in den Vereinigten Staaten teilweise von den Arbeitgebern bezahlte Praxis, Eizellen einfrieren zu lassen ("social freezing"), findet ebenso Berücksichtigung wie die Antinatalisten von Buddha über Schopenhauer bis heute oder die von Teilen der Klimabewegung neuerdings propagierte "Kinderfreiheit" zum Zwecke der CO2-Reduktion.
Die Dilemmata, die aus der Pränatal- und Präimplantationsdiagnostik erwachsen, werden ebenso behandelt wie Schwangerschaftsabbrüche und der moralische Status des ungeborenen Lebens. Immer wieder geht es dabei auch um die ökonomischen Verhältnisse. Der Zugang zu reproduktionsmedizinischen Leistungen hängt oft vom sozialen Status ab. Im reichen Westen ist es eher unüblich, als Leihmutter Geld zu verdienen.
Die argumentative Gewissenhaftigkeit erweist sich allerdings zugleich als Achillesferse. Der Text sagt fast alles selbst, statt dem Leser Angebote für eigene Gedanken zu machen. Keine von der Reproduktionsmedizin angebotene Kombination aus eigenen oder fremden Eizellen, Samen oder Uteri wird ausgelassen. Weniger wäre manchmal mehr gewesen; insbesondere die Filmreferenzen zu Illustrationszwecken erweisen sich als überflüssig. Die gewählten Beispiele aus der Wirklichkeit sind spannender: Wird das Baby der Zukunft genetisch ediert werden, indem eine "Gen-Schere" Veranlagungen zu Krankheiten abtrennt? Ist das ein therapeutischer Eingriff, vielleicht sogar nur "eine erzieherische Maßnahme", oder doch Optimierung mit fließendem Übergang zur Eugenik?
Das Buch ist zwar keine Streitschrift, aber mehr Bereitschaft zur Kontroverse hätte das Lesevergnügen erhöht. Stattdessen wurde um "Argumente, Bilder und Formulierungen gerungen" - eine in der Debattenkultur beliebte Formulierung, die Meinungsverschiedenheiten selbst bei strittigsten Themen durch den Hinweis auf den Zweifel als steten Begleiter einhegt, bevor es zur Entzweiung kommen könnte.
Die im bedächtigen Ton präsentierten Standpunkte sind denn auch auf Schlichtung bedacht. Zwar bedeute Elternschaft grundsätzlich die Offenheit gegenüber dem Ungebetenen, doch zugleich sei die Abtreibung pränatal als behindert diagnostizierter Kinder - im Falle des Downsyndroms betrug die Abbruchrate zwischen 1970 und 2001 im Schnitt 92 Prozent - als individualethische Entscheidung zu respektieren. Leihmutterschaftsverhältnisse sollten zulässig sein, aber nur wenn "zwischen den beteiligten Personen und dem entstehenden Kind eine Beziehung des verlässlichen Vertrauens und der Wertschätzung besteht". Das "Prinzip der reproduktiven Autonomie als Dreh- und Angelpunkt eines liberalen und zugleich feministischen Diskurses" über die Frage des Kinderwollens bedeute, "dass Angebote wirklich Angebote bleiben müssen". Tenor: Viel darf, nichts muss, aber bitte alles ethisch gut abgewogen.
Damit dürfte das Buch bei an dem Thema ohnehin Interessierten offene Türen einrennen. Wer die entsprechenden Diskurse verfolgt, wird sein Wissen um sachverständiges Vokabular erweitern können: So bemisst sich zum Beispiel die Erfolgsquote der weltweit jährlichen 2,4 Millionen Behandlungszyklen der In-vitro-Fertilisation in der "Baby-Take-Home-Rate" (in diesem Fall: 50 000). Der Trend zum späten Erstkind rühre von der heute verbreiteten "verschleppten Adoleszenz". Lesern, die bei Diskussionen gerne möglichst viele Aspekte gewürdigt sehen, werden an dem Buch ihre Freude haben. Für alle anderen sei das Hauptargument kurz zusammengefasst: Viele Wege führen zum Kind.
KERSTIN MARIA PAHL
Barbara Bleisch und Andrea Büchler: "Kinder wollen". Über Autonomie und Verantwortung.
Hanser Verlag, München 2020. 304 S., geb.
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