Besprechung vom 31.01.2024
Der eigentliche Roman ist ihr Gesicht
Fein und furchtlos: Barbara Yelins bewegendes Graphic-Novel- Porträt der Schoa-Überlebenden Emmie Arbel.
Vor Jahren schlug ich als Jurorin Barbara Yelin für einen Literaturpreis vor. Die Jury traf dann eine andere Entscheidung, doch Yelins Graphic Novels "Irmina" und "Der Sommer ihres Lebens" machten Eindruck. Zweifel blieben indes, ob Comics als Literatur gelten dürften.
Ich strebe hier keine akademische Diskussion an, sondern meine: Es kommt darauf an. Yelins Bücher erfüllen viele Standards sehr guter Literatur. Sie sind welthaltig, sprachbewusst, souverän komponiert. Dass die Geschichten auch gezeichnet sind, ist ein Plus, kein Minus. Wenn mich zum Beispiel jemand nach Literatur über die Nazizeit fragt, empfehle ich als Erstes die Graphic Novel "Irmina" (2014), nicht die kanonischen Romane.
Warum? Yelin gelingt es darin, das "Dritte Reich" - nach wie vor das belastendste Thema, das die deutsche Literatur zu vergeben hat - nicht nur ohne Einseitigkeit und Hysterie zu behandeln, sie wählt erschwerend auch noch die undankbare, da unheroische Perspektive der schuldig gewordenen Mitläufer. Erkundet wird das Schicksal von Yelins Großmutter, die zur Nazi-Frau wurde und ihr ganzes weiteres Leben unter den Folgen litt, ohne es sich einzugestehen. Trotzdem ist diese Fabel des Versagens keine düstere, sondern im Gegenteil eine berührende, befreiende Lektüre. Das liegt, meine ich, an dem Mut der Autorin, dieses Thema ohne Ausflüchte, Grandiositätsphantasien, Scheinnaivität oder Züchtigungsattitüde auf den Punkt zu bringen. Die Wahrheit, auch die schreckliche Wahrheit des eigenen Versagens, tötet nicht, wie so viele fürchten. Im Gegenteil: Töten wird die fortgesetzte Lüge. Ohne die Fähigkeit, Schwäche und Opportunismus bei sich selbst zu erkennen, ist über jene Epoche nichts zu lernen; unsere Gegenwart zeigt das gerade wieder mit erschreckender Schärfe. Dieses Buch in der scheinbar kindlichen Sprache des Comics enthält mehr Reife und Wahrhaftigkeit als mancher brillante Roman; und noch etwas ganz Besonderes: Poesie durch tiefe Humanität.
Der andere von mir bewunderte Band, "Der Sommer ihres Lebens", 2016 in Zusammenarbeit mit dem Autor Thomas von Steinaecker zuerst als Netzcomic und 2017 als Buch erschienen, schildert ein noch unauffälligeres Schicksal. Der Titel meint gleichermaßen den letzten Sommer einer alten Frau im Altersheim und den Sommer ihres ganzen Lebens. Es geht um Alter und Tod und hat doch lebendigen Atem und einen stillen Glanz. Die Handlung gleitet zwischen Gegenwart und Vergangenheit hin und her; die beiden Ebenen vermischen sich und bereichern einander. Es ist traurig und weise und durch den feinen Erzählton auf rätselhafte Weise leicht und beglückend.
In ihrem neuen Buch, "Emmie Arbel - Die Farbe der Erinnerung", wendet sich Yelin nun einer israelischen Zeitzeugin zu. 1937 in Holland geboren, überlebte Emmie Arbel als Tochter einer jüdischen Familie den Holocaust. Das Buch wurde vor dem Hamas-Massaker am 7. Oktober beendet (wie Arbel dieses Ereignis erlebte - nämlich während eines Zeitzeugen-Besuchs in Deutschland -, hat Yelin als Nachtrag zu ihrem Buch in dieser Zeitung erzählt: F.A.Z. vom 30. Dezember 2023).
Emmie Arbel verbrachte als Kind vier Jahre in verschiedenen KZs und verlor beide Eltern im Holocaust. Seit 1949 lebt sie in Israel. Sie arbeitete im Kibbuz und in der israelischen Armee, heiratete und ließ sich scheiden, zog allein drei Kinder groß.
Als lebende, wiedererkennbare Protagonistin durfte und musste Arbel die Deutungshoheit über ihre Geschichte behalten. Ein solches Arrangement ist für Autoren gefährlich, doch in diesem Fall glückte es: Arbel erweist sich als uneitle, vertrauenerweckende Zeugin, ließ Yelin alle künstlerische Freiheit und übte ihr Mitspracherecht so sachlich aus, wie es nur starke Charaktere vermögen.
Yelin ihrerseits verlässt sich auf Arbels Erzählung, ohne zu idealisieren oder zu urteilen. Der zeitgeistigen Diskussion um "kulturelle Aneignung" entgeht sie, indem sie die Recherche miterzählt. Die beiden Frauen lernten sich 2019 anlässlich eines internationalen Projekts (Visual Storytelling and Graphic Art in Genocide and Human Rights Education) kennen und freundeten sich an. Über drei Jahre hinweg trafen sie sich regelmäßig, redeten per Skype, reisten zu den Schauplätzen der Geschichte. Yelin zeichnet sich hin und wieder als Figur hinein, sehr diskret, nur reagierend und fragend. In manchen Passagen läuft Emmie Arbels Icherzählung als schwarzes Spruchband am unteren Bildrand mit, sodass Gespräch und Rückschau klar unterschieden sind. Es entsteht eine Art psychotherapeutisches road movie, wobei die Therapie nicht aus Rat und Technik besteht, sondern aus Anteilnahme und der einfühlsamen Gestaltung von Erinnerung. Gemeinsam finden die Frauen einen farbig-lakonischen Stil.
Wir begegnen einer stolzen Person von ruppigem Charme. Emmie Arbel macht äußerlich nichts von sich her, raucht Kette, bekennt sich zu ihren Macken, wirkt bohrend aufrichtig, nie sentimental. "Ich geh jetzt eine rauchen", sagt sie, oder sie steht im Gespräch auf, um fernzusehen oder um "Freecell" am PC zu spielen. Nur allmählich und bruchstückhaft öffnet sie sich ihren Traumata, auch solchen, die erst nach der Schoa entstanden.
Manche Erinnerungspassagen beginnen mit Farbflächen, aus denen sich diffus die Erinnerung herausschält. Krasse Details sind nur angedeutet, niemals reißerisch aufbereitet. Das Wesentliche ist erfasst, die Intensität vermittelt sich durch den Gesichtsausdruck der alten Erzählerin. Dieses Gesicht ist der eigentliche Roman. Yelin zeigt es in vielen intimen Augenblicken, immer behutsam und respektvoll. Ihr unnachahmlich sensibler Strich verleiht Emmie einen Zauber. Ich weiß nicht, wie sie es schafft, im notwendig reduzierten Comic-Stil - das Buch hat mehr als neunhundert Bilder - derart nuanciert ein so kompliziertes Seelenleben abzubilden. Nicht die soundsovielte Gräuel-Chronik steht im Vordergrund, sondern das jahrzehntelange psychische Abenteuer des Überlebens.
Wir erleben Emmie in ihrem Alltag als Rentnerin, Kinder und Enkel kommen zu Besuch. Das Familienklima scheint liebevoll zu sein, obwohl Emmie - das sagt sie selbst - keine einfache Mutter war. Die kluge, ihrerseits dauerqualmende Tochter Orli trägt eine weitere Perspektive bei. Einmal erzählt Emmie Arbel, wie Orli zur Welt kam - während der Arbeit, irgendwie unerwartet. "Wie war es, ein Baby zu haben?", fragt Yelin aus dem Off. Die Antwort: "Es . . . es war ok." Im Gesicht der alten Emmie scheint die tiefe Ratlosigkeit der verlorenen jungen Frau auf, die selbst kaum Geborgenheit erlebte und ihre Kindheit in Kälte, Hunger und Angst verbracht hat. Die Tochter kommentiert: ",Ok'?! . . . Na, danke, Ima." Dann lachen beide und sehen traurig aus. PETRA MORSBACH
Barbara Yelin: "Emmie Arbel - Die Farbe der Erinnerung".
Reprodukt Verlag, Berlin 2023. 192 S., Abb., geb.
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