Besprechung vom 03.12.2024
Als die Sitten in Hollywood noch anders waren
Heilige Makrele: Barbra Streisand erinnert sich in ihren umfangreichen Memoiren, wie sie von Brooklyn aus erst den Broadway und dann die ganze Welt eroberte.
Eine der untergründigen Debatten in diesem Buchherbst betrifft die ganz langen Bücher. Also solche, die über tausend Seiten haben, das ist die Messlatte, ab der ein besonderes Maß an Zumutung beginnt. Die Debatte wird vorwiegend in den sozialen Netzwerken geführt, befeuert durch Clemens Meyer, der nach dem Buchpreis (den er nicht bekam) noch einmal ausdrücklich auf den Rang seines 1056 Seiten langen Romans "Die Projektoren" hinwies. Es fragt sich, wie gut ein Buch sein muss, damit man sich die Zeit nimmt, die man für einen solchen Umfang braucht.
Lesen ist mehr denn je auch Management von Lebenszeit. Die eben erschienene Autobiographie von Barbra Streisand hat knapp 1200 Seiten. Dazu könnte man spontan, mit einem ihrer Lieblingsausdrücke, sagen: "Holy mackerel" - "Heilige Makrele". Diese Floskel ließe sich ebenso gut mit "Ei der Daus" oder "Ach du meine Güte" übersetzen, aber das Wörtliche hat auch etwas. Barbra Streisand ist ein Weltstar, naheliegenderweise setzt der Titel das voraus. Das Buch heißt einfach "Mein Name ist Barbra". Der fehlende Buchstabe im Vornamen, den "die Streisand", wie sie auch oft einfach genannt wird, selbst elidiert hat, aus Gründen beiläufiger Individualität, ist tatsächlich zu einem Markenzeichen geworden.
Barbra Streisand ist Sängerin und Schauspielerin, sie hat von Brooklyn aus zuerst den Broadway, dann Hollywood und schließlich die ganze Welt erobert. Sie hat Millionen Schallplatten verkauft und vermutlich jedes Lied, das zu Herzen geht, irgendwann gesungen. Längst wird sie auch von der intellektuellen Welt nicht mehr unterschätzt. An der Goethe-Universität in Frankfurt fand im Vorjahr eine Tagung unter dem Titel "Critical Barbra" statt, die Perspektiven auf den "First Global Jewish Superstar" anbot.
Ihre jüdische Identität hat sie mit dem Film bekräftigt, mit dem sie heute vielleicht am stärksten identifiziert wird: Bei "Yentl" (1983) führte sie selbst Regie. In ihren Memoiren nimmt sie sich allein für die lange Entstehungsgeschichte der Adaption einer Geschichte von Isaac Bashevis Singer gut hundert Seiten, da kommt wirklich jedes Detail von der ersten Begegnung mit der Geschichte bis zum letzten Interview während der Vermarktung in Europa zur Sprache.
Man erfährt dabei aber auch, warum diese Hosenrolle für sie so unumgänglich war: Sie spielte eine Frau, die zum Thorastudium zugelassen wurde und sich deswegen als Mann ausgibt, vor allem für ihren Vater. Der starb früh und hinterließ eine Lücke in ihrem Leben, die sie nur zu schließen vermochte, indem sie selbst zu einer starken Frau wurde. Auch um die "Negativität" ihrer Mutter auszugleichen und die Geister eines verabscheuten Stiefvaters zu bannen, der zum Glück nicht lange blieb.
Die Kindheit, die man sich beim Lesen ein wenig so vorstellen mag wie Szenen in Helen Levitts legendärem Film "In the Street" (1948), steht einerseits im Zeichen des großen Verlusts, hat aber auch etwas Paradiesisches. Und schon hier setzt sich Barbras Hang zur Vollständigkeit durch, denn das ganze Buch hindurch werden auch unzählige Geschmackserlebnisse verbucht - selten hat in einer Autobiographie das Essen eine so große Rolle gespielt. Damit steigt der Identifikationsfaktor, denn auch Normalsterbliche können nachvollziehen, dass man in Marseille zwei Kugeln Eis besser nach der Bouillabaisse zu sich nimmt und nicht davor, wie es Barbra dummerweise getan hat.
Bei Stars gibt es üblicherweise drei Themen: ihre Arbeit, ihre Beziehungen und dann vielleicht so etwas wie ein geheimes Leben, das sie nur für sich führen und von dem sie "Vanity Fair" nie erzählen würden, weil sie sich das für die Memoiren aufheben wollen. Die Arbeit steht im Mittelpunkt von "Mein Name ist Barbra". Sie hat offensichtlich noch einmal gründlich recherchiert, ist in die Archive (nicht nur die eigenen) gegangen und erzählt nun von Songtexten, Arrangements, Bühneninszenierungen, Kamerawinkeln mit einer Genauigkeit, die allerdings immer wieder überraschend lehrreich ist.
Denn Streisand nimmt einen wirklich mit in das Innerste des komplexen Schaffensprozesses, den eine Broadway-Show oder ein Filmdreh darstellen. Und wenn sie herausarbeitet, welche Dynamik zwischen ihr und ihrem Filmpartner Robert Redford und dem Regisseur Sydney Pollack entstand, wenn sie wie bei einem Cliffhanger eine Szene benennt, bei der sich Pollack auf die Seite ihres Partners geschlagen und damit für ihre Begriffe den Film ruiniert hat, dann möchte man sich diesen Film sofort noch einmal anschauen, um ihre Behauptung zu überprüfen. Der Film heißt "So wie wir waren". Streisand spielte darin 1973 eine jüdische, marxistische Friedensaktivistin.
Einige ihrer Erfahrungen im Metier würde man heute als missbräuchlich begreifen, sie reflektiert darüber nicht groß, nennt aber immer wieder Namen. An manchen Stellen ist das Buch eine Abrechnung, zum Beispiel mit Frank Pierson, der 1976 meinte, er müsste bei einem Remake von "A Star Is Born" Regie führen, wofür er nach Meinung von Streisand nicht die geringste Begabung hatte. Auch in diesem Fall äußert sie nicht nur einen Vorwurf, sondern erbringt einen Nachweis durch anschauliches Erzählen.
Die zahlreichen Begegnungen mit anderen Stars nehmen auch Platz ein und machen damit wieder den Umfang des Buchs plausibler. Marlon Brando küsst sie auf einer Seitenbühne auf den Rücken und bekommt zur Antwort: "Sie zerstören meine Phantasie." Mit dem kanadischen Premierminister Pierre Trudeau hat sie eine Romanze, die sie mit berückender Arglosigkeit schildert: "Ich habe den Kopf in seinem Schoß, er liest offizielle Dokumente. Das ist Glückseligkeit." Herrlich schließlich ein Moment der Rückschau, in dem anklingt, dass nicht alles bis ins letzte Detail zu sortieren ist: "Habe ich mit Warren geschlafen? Ich schätze, ich habe es getan. Vielleicht einmal." Dem Kollegen Warren Beatty eilte ein Ruf bezüglich der Anzahl seiner Sexualpartnerinnen voraus, dem Barbra sich an dieser Stelle möglicherweise einfach ergibt. Sie schafft es, zugleich freimütig und diskret aus einer Zeit zu erzählen, als die Sitten in Hollywood noch deutlich anders waren als heute.
Das "Ich schätze, ich habe es getan" deutet im Deutschen auch an, dass bei der Übersetzung eines solchen Riesenwerks, das ein wenig überraschend in einem österreichischen Kleinverlag herauskommt, die eine oder andere automatisierte Beschleunigung eine Rolle gespielt haben könnte. Man stößt immer wieder auf Sätze, die korrekt übersetzt sind und trotzdem etwas von der latent absurden Magie des Autobiographischen verströmen: "Das Album ,Wet' nahm seinen Anfang mit einem Jacuzzi." Vielleicht sogar "in" einem Jacuzzi?
Die Filmemacherin Leni Riefenstahl hat mit ihren Memoiren bewiesen, dass man auch über eine Strecke von mehr als 1000 Seiten konsequent geistlos bleiben kann. Nicht nur im Vergleich dazu ist "Mein Name ist Barbra" in seinem Genre eine wirkliche Bereicherung. Am besten wäre vielleicht, man könnte es sich vorlesen lassen. Von Barbra. Auf Jiddisch. Heilige Makrele! BERT REBHANDL
Barbra Streisand: "Mein Name ist Barbra".
Aus dem Englischen von Raimund Varga. Luftschacht Verlag, Wien 2024. 1200 S., Abb., geb.
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