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Besprechung vom 12.11.2024
Entgleister Sonderzug nach Moskau
Kohl und Merkel hätten sich keine Illusionen über Putin gemacht, schreibt Bastian Matteo Scianna - und erklärt, warum dennoch erst 2022 die "Zeitenwende" kam
Rein innenpolitisch betrachtet wechseln sich in diesem Buch die Parteifarben der Handelnden symmetrisch ab: von Schwarz zu Rot und dann erneut von Schwarz zu Rot - gespiegelt in den Kanzlerschaften von Helmut Kohl, Gerhard Schröder, Angela Merkel und Olaf Scholz. Rein außenpolitisch betrachtet wechselt sich in diesem Buch relativ wenig ab - zu stark ist die Kontinuität des deutschen Regierungshandelns in der Russlandpolitik seit den Neunzigerjahren gewesen.
Ist das überraschend? Nein, zumindest dann nicht, wenn man einer Kernthese von Bastian Matteo Scianna folgt, dass sich die deutsche Russlandpolitik unter Kohl, Schröder und Merkel zum einen im Mainstream der Gesellschaft bewegt habe. Zum anderen sei diese Politik deutschen Interessen mit unterschiedlichen Prioritäten gefolgt, die die jeweiligen Kanzler beziehungsweise die Kanzlerin gesetzt hätten. Dabei betont Scianna: "Keineswegs war Naivität die Mutter der Porzellankiste." Kohl und Merkel hätten sich nie Illusionen hinsichtlich der kurz- und mittelfristigen Entwicklung Russlands hingegeben.
Aber warum musste dann von Scholz eine "Zeitenwende" nach der russischen Vollinvasion in der Ukraine Ende Februar 2022 ausgerufen werden? Sciannas ernüchterndes Fazit: Man habe deutsche und teils europäische Interessen verfolgt, ohne jedoch eine Abschreckungs- oder Eindämmungspolitik gegenüber einem immer aggressiver auftretenden Russland ins Kalkül einzubeziehen. Eine Folge daraus, die bis heute nicht nur bei der Bundeswehr, sondern auch bei anderen europäischen Streitkräften des Westens zu beobachten ist, nennt Scianna klar beim Namen: "Die eigene militärische Abwehrbereitschaft wurde sträflich vernachlässigt." Man sei weitgehend einer Utopie der Verflechtung gefolgt, in der ein etwaiger kriegerischer Konflikt ausgeblendet worden sei.
Kann dies bereits das endgültige Urteil der Geschichte sein? Scianna selbst be-zeichnet seine umfangreiche Untersuchung der jüngeren deutschen Russlandpolitik bescheiden wie realistisch als "Zwischenbericht", geschuldet nicht nur der zeitlichen Nähe zum Untersuchungsgegenstand. Auch der Zugang zu historisch wie politisch relevanten Quellen war dem wissenschaftlichen Mitarbeiter am Lehrstuhl für Militärgeschichte und Kulturgeschichte der Gewalt sowie Privatdozenten am Historischen Institut der Universität Potsdam verwehrt: Zwar gestattete das Bundeskanzleramt eine Schutzfristverkürzung für seine Aktenbestände der deutschen Russlandpolitik bis 1998 - nach beinahe einem Jahr des Wartens von Scianna. Aber der Zugriff auf die Akten der rot-grünen Jahre 1998 bis 2003 und zur NATO-Osterweiterung blieb ihm versagt - und dies ohne Begründung.
Scianna behalf sich mit einem Blick in die Archive der parteinahen Stiftungen der Regierungsparteien seit 1990, ergänzt um Archive in den Vereinigten Staaten und Europa, hier nicht zuletzt in Großbritannien und Frankreich. Das Bild, das sich daraus zeichnen lässt, ist zwar eher eine Skizze, aber diese lässt das fertige Gemälde bereits erahnen: Die Bundesregierungen orientierten sich in der Russlandpolitik des wiedervereinigten Deutschlands an nationalen Interessen, die vor allem wirtschaftspolitisch und innenpolitisch geprägt waren. Verbunden damit war eine Einbindungspolitik gegenüber Russland. Wie der Westen insgesamt entwickelte auch die Bundesrepublik keine kohärente Eindämmungs- oder Abschreckungspolitik gegenüber Wladimir Putin bezüglich der Ukraine, die Überlegungen des russischen Präsidenten zu einer direkten Aggression durch Russland vielleicht hätten beeinflussen können.
Die aufgestockte Vornepräsenz an der NATO-Ostflanke habe der Abschreckung vor einem Angriff auf NATO-Gebiet gedient und auch eher gegen Intentionen als gegen russische Fähigkeiten abgezielt, denn die stationierten NATO-Verbände hätten letztlich nur symbolischen Charakter gehabt, wie Scianna treffend bemerkt. Hinzu kamen auch nach seiner Analyse deutsche Sonderwege - etwa bei der Pipeline Nord Stream 2 oder bei Schröders enger persönlicher Bindung an Putin.
Rückblickend erinnert die Bilanz der deutschen Russlandpolitik seit den Neunzigerjahren an einen "entgleisten Sonderzug", wie Scianna es in ein anschauliches Bild fasst. Allerdings war es mehr als ein Zug, der hier entgleiste. Scianna selbst bringt es auf den Punkt: Meist habe Deutschland unter den europäischen Staaten nicht allein gestanden, etwa als nach Russlands Annexion der Krim 2014 und der russischen Eskalation im Osten der Ukraine die eigene militärische Aufrüstung und die Ertüchtigung der ukrainischen Streitkräfte verpasst worden seien, oder mit dem generellen Wunsch, immer wieder auf den Kreml zuzugehen und Anknüpfungspunkte in Fragen der internationalen Politik oder des wirtschaftlichen Austauschs zu suchen.
Doch was wäre eine Alternative zu diesem Handeln beziehungsweise Nichthandeln gewesen? Scianna zieht eine Lehre aus der jüngeren Geschichte der Ukraine, die im Umgang von defensiv agierenden Demokratien mit offensiv auftretenden Diktaturen allgemeine Gültigkeit haben sollte: "Mit umfangreicher Waffen- und Ausbildungshilfe des Westens nach 2014 wäre die Ukraine im Februar 2022 wesentlich besser vorbereitet gewesen." Denn die Lehre aus den Jahren 2014 und 2015 ist für Scianna, dass die Ukraine militärisch zu schwach gewesen sei, um ihre Souveränität und territoriale Integrität zu verteidigen, deren Verletzung die Bundesregierung zwar stets kritisiert habe. Aber in der Praxis habe sie wenig unternommen, um die Resilienz des bedrohten Landes zu stärken.
Im Gegenteil: Bei Scianna kann man noch einmal detailliert nachlesen, wie Deutschland in diesen Jahren nie feder-führend zu einer westlichen Drohkulisse oder Abschreckung Russlands beitrug - eben durch eine Ertüchtigung der Ukraine, eine bessere Ausstattung der Bundeswehr oder Aufstockung der Kräfte an der NATO-Ostflanke. Es sei nie ein sicherheits- oder verteidigungspolitischer "Ruck" durch Deutschland gegangen.
Dieses Verhalten steht für Scianna sinnbildlich für eine Utopie der "Verflechtung ohne Rückversicherung". Und diese wiederum steht für ihn für die gesamte deutsche Russlandpolitik seit 1990 - ohne dabei in Europa eine Ausnahme darzustellen. Dafür möge es Gründe gegeben haben, aber unter dem Strich werde es schwerfallen, dies als erfolgreiche Politik zu verkaufen. Dieser Bewertung in Sciannas "Zwischenbericht" dürfte das endgültige Urteil der Geschichte kaum widersprechen. THOMAS SPECKMANN
Bastian Matteo Scianna: Sonderzug nach Moskau. Geschichte der deutschen Russlandpolitik seit 1990.
Verlag C. H. Beck, München 2024. 719 S., 34, - Euro.
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