Ich habe Geschichten erfunden, weil ich meine eigene lange nicht erzählen konnte. - Vorwort
Kennt Ihr diese Fan-Girl-Momente? Wenn einer Eurer Lieblings-Autoren etwas Neues rausbringt und Ihr, ohne zu schauen WAS, einfach zugreift? So geschehen mit Benedict Wells Die Geschichten in uns. Und dann halte ich etwas ratlos einen Schreibratgeber (?) in der Hand, frage mich, ob ich das gewollt habe, lese aber gleich "mal kurz" an und kann nicht mehr aufhören.
Benedict Wells, der sich bisher kaum persönlich zeigte, bricht im ersten Teil des Buches seine eigene Geschichte auf und lässt uns tief in sein Innerstes schauen. Wie wurde aus dem Neverboy, der nur seine Fehler sieht und niemanden mit der eigenen Geschichte behelligen möchte und der seine Romanfiguren als Masken benutzen und seine Gefühle hinter ihren Gefühlen verstecken wird (S.24), eine der interessantesten jungen deutschen Stimmen der Gegenwart?
Im liebevollen, aber unzuverlässigen Elternhaus zwischen der manisch-depressiven Mutter und dem mit eigenen Problemen beschäftigten Vater, zwischen Schuld, Scham und zu früher Verantwortung fand er Halt in Geschichten. Er erzählt von seiner Liebe zu Astrid Lindgren und später John Irving und von ihrem Einfluss auf den Beginn einer großen Leidenschaft. Er reflektiert auf Schlüsselerlebnisse seines Lebens, auf die Literatur und die Menschen, aus denen er Kraft schöpfte, der zu werden, der er ist.
Ein Teil von mir wollte damals Schriftsteller werden, einer MUSSTE es, einer war es bereits und einer zeigten allen dreien den Vogel. S.70
Mitreißend und unverkennbar beschreibt er seine ersten Tage in Berlin, wo alles begann, allein, ohne Geld, den Kopf voller Ideen und einer Schubkarre voller Träume. Er lässt uns teilhaben an der Mühsal des Schreibens, der Einsamkeit, dem Scheitern, aber auch am Glück, der Freude und der Sehnsucht, die es zu einer alternativlosen Notwendigkeit machen.
Im zweiten Teil nähern wir uns deutlicher einem Schreibratgeber an und doch möchte ich es kaum so nennen, denn auch hier bleibt Wells sehr nah bei sich und lässt uns teilhaben an SEINEM Schreib- und Überarbeitungsprozess. Werkelt vor unseren Augen an seinen Romanen herum, zeigt uns, warum viele Sachen gut funktioniert haben und manche nicht, lässt uns einen Blick in seinen Werkzeugkasten werfen. Auch wenn ich keine Absichten hege etwas zu veröffentlichen, macht diese Mischung aus persönlichen Lese- und Schreiberfahrungen, Werkstatteinblicken und Lektüretipps Spaß.
Doch am eindrücklichsten bleibt mir seine GESCHICHTE im Herzen. Denn er erzählt darin von der Suche nach der ganz eigenen Stimme in uns, die UNSERE Gefühle in Worte zu fassen vermag und unserem Leben so erst Form verleiht.
Wenn ich keine Worte für mein tieferen Gefühle habe, empfinde ich sie überhaupt? Weiß ich dann wirklich, wer ich bin, oder bleibe ich mir am Ende ein Schatten? S.17