Besprechung vom 18.08.2023
Ein langer Kampf an vielen Fronten
Benno Gammerl schreibt eine Geschichte der Emanzipation queerer Menschen in Deutschland seit dem Kaiserreich
Es kann verlockend sein, Geschichte als einen linearen Verlauf gesellschaftlichen Fortschritts (oder, je nach Perspektive, Rückschritts) zu begreifen. Das gilt besonders in Hinblick auf emanzipatorische Bewegungen. Früher, so könnte man meinen, war das Leben für bestimmte Gruppen zwangsläufig schlecht, waren etwa die gesellschaftlichen Vorbehalte gegenüber Homosexuellen oder Transpersonen größer als heute. Benno Gammerls Buch zeigt, dass es ganz so einfach nicht ist. Denn obwohl kaum zu leugnen ist, dass queere Personen heute so viele Rechte genießen wie nie, bedeutet das weder, dass sie früher eine reine Schattenexistenz geführt hätten, noch, dass erkämpfte Rechte immer bestehen bleiben. Es lohnt sich also, die Komplexität gesellschaftlicher Entwicklungen genauer abzubilden.
Diesen Versuch unternimmt Gammerl, indem er die Geschichte der Emanzipationsbewegung vom Kaiserreich bis heute nachvollzieht. Dabei vertritt er die These, dass eine Aufteilung in progressivere und konservativere Epochen nur bedingt Sinn ergibt, da Fortschritt und Rückschritt durchaus koexistieren, ja sich mitunter sogar bedingen können und auch nicht immer leicht zu trennen sind. Ein Beispiel hierfür sind Gerichtsprozesse, die im Kaiserreich gegen Homosexuelle geführt wurden. Einerseits hatten diese für die involvierten Personen teils schwere Konsequenzen und förderten Vorurteile. Andererseits zeigte ihre breite Aufarbeitung in Presse und Karikaturen anderen, dass es so etwas wie Homosexualität gab und "dass sie nicht die Einzigen waren, die sexuell anders empfanden als die meisten Leute", wie Gammerl schreibt. Im Zuge dieser Prozesse wurden Experten wie der berühmte Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld für ein Gutachten herangezogen. Die Tatsache, dass sie Homosexualität als "Erkrankung" einstuften, mag heute als - gelinde gesagt - diskriminierend empfunden werden. Doch damals führte es oft dazu, dass Angeklagte eine Strafe umgingen, weil sie für ihre Veranlagung eben nichts konnten.
Diese Ambivalenzen stellt Gammerl anschaulich dar. Das macht besonders die Kapitel über das Kaiserreich oder etwa die Zeit des Nationalsozialismus interessant. Doch gerade weil der Historiker zeigen möchte, dass queere Menschen sich schon immer bestimmte Freiräume genommen und erkämpft haben, keineswegs nur Opfer waren, scheint er besonders häufig betonen zu wollen, wie schwer dieser Kampf war und ist.
Das ist wichtig und richtig, schießt aber manchmal über das Ziel hinaus. So schreibt Gammerl an einer Stelle, ein Nachteil der heutigen, verbesserten Situation für LSBTI-Personen sei eine Fokussierung auf "schwule Ehepaare oder Singles mit einem beneidenswerten Sexualleben, lesbische Regenbogenfamilien oder selbstbewusste Transmänner", während "einsame, depressive, beruflich oder anderweitig gescheiterte LSBTI-Personen" nicht ins Bild passten. Ein Nachteil, den diese Gruppe wohl auch mit einsamen, depressiven oder beruflich gescheiterten Heteros teilt. Dass man mit der Normalisierung und Akzeptanz von Homosexualität auch die Bürden in Kauf nehmen muss, die eine Wahlfreiheit zwischen verschiedenen Lebensentwürfen nun einmal beinhaltet, greift Gammerl in einem späteren Kapitel auf. Auch das gehört zur Emanzipation.
Auch in Hinblick auf die Zusammensetzung der LSBTI-Gemeinschaft scheut Gammerl sich nicht vor Komplexität. Es gab nie "die Homosexuellen" als homogene Masse. Und so beleuchtet der Historiker linke und konservative Strömungen, ohne dabei eine allzu klare Wertung vorzunehmen, im Gegenteil. Denn, so schreibt er, "historisch gesehen hatten queere Bewegungen vor allem dann Aussicht auf Erfolg, wenn verschiedene Gruppen mit unterschiedlichen Argumenten ähnliche Ziele verfolgten". Das leuchtet ein. Queere Menschen sind, genau wie alle anderen auch, zunächst vor allem Individuen mit unterschiedlichen Vorstellungen eines gelungenen Lebens: Während die einen ein bürgerlich geprägtes Leben (verbunden etwa mit der Institution der Ehe) ablehnen, wünschen sich andere genau das. Nur weil man eine sexuelle Orientierung teilt oder trans ist, muss man in anderen Punkten nicht einer Meinung sein.
Die Komplexität des Themas bricht Gammerl zu einem verständlichen, gut lesbaren Text herunter. Das hat jedoch zur Folge, dass sein Buch, so als solle man ja nichts missverstehen, an einigen Stellen redundant wirkt, wohingegen man sich an anderen etwas mehr Tiefe gewünscht hätte. Gerade weil die deutsche Geschichte des vergangenen Jahrhunderts kaum ausführlich aus queerer Perspektive beleuchtet wurde, das "schlanke Werk" also "eine breite Lücke" füllen muss, wie Gammerl schreibt, gäbe es noch viel mehr zu sagen. Passagen, in denen Gammerl besonders zum Ende hin lediglich verschiedene Organisationen aufzählt, die sich für die Rechte der LSBTI-Gemeinschaft einsetzen, wirken außerdem recht leblos. Auch einer Organisationsgeschichte des queeren Aktivismus hätten Fallbeispiele gutgetan. Das Buch bleibt deshalb zunächst eine Einführung und will genau das wohl auch sein. Als solche ist sie in weiten Teilen durchaus gelungen. ANNA VOLLMER
Benno Gammerl: "Queer". Eine deutsche Geschichte vom Kaiserreich bis heute.
Carl Hanser Verlag, München 2023. 272 S., Abb., geb.
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