Besprechung vom 18.09.2023
Der unbekannte Spion
Wie Gerhard Flatow Maos deutscher Topagent wurde
Als der Geschäftsmann Gerhard Flatow 1956 im Alter von 45 Jahren nach fünfjähriger Haft endlich aus einem chinesischen Geheimdienstgefängnis entlassen wird, kehrt er im Auftrag der Chinesen nach Deutschland zurück. Er soll seinen alten Job bei dem Konzern Otto Wolff wieder aufnehmen und die westdeutsche Staatsbürgerschaft beantragen, nicht die der DDR, wie es Flatow ursprünglich wollte. Wegen seiner engen Verbindungen in die Industrie und den internationalen Handel ist es in den Augen der Chinesen sinnvoller, wenn er Bürger der jungen Bundesrepublik wird. Mit diesem Schritt wird aus dem umtriebigen China-Abenteurer und Geschäftemacher Flatow ein Strippenzieher und Lobbyist Chinas im Europa zur Zeit des Wiederaufbaus und des Kalten Krieges. Was sich wie das Drehbuch eines Agententhrillers liest, ist ein Sachbuch, dem jahrelange Recherchen zugrunde liegen.
Der Wirtschaftsjournalist Bernd Ziesemer hat in "Maos deutscher Topagent" das sowohl in beruflicher als auch in privater Hinsicht außergewöhnliche Leben Gerhard Flatows (1910 bis 1980) nachgezeichnet. Die Veröffentlichung wirft ein Schlaglicht auf eine bemerkenswerte Biographie sowie auf die Geschichte der Beziehungen zwischen Deutschland und der Großmacht China. Ziesemer enttarnt mit seinem Buch einen China-Agenten und beleuchtet damit die weitreichenden Aktivitäten, mit denen die Volksrepublik hinter den Kulissen ihren Einfluss im Ausland ausbaut - damals ebenso wie heute. Die strategischen Erfolge, die China im internationalen Machtpoker erzielt, sind auch der Tatsache geschuldet, dass sich hochbegabte und einflussreiche Westler wie Flatow für diese Zwecke einspannen lassen. Welchen Fleiß und welches Talent die Akteure dabei an den Tag legen, lässt Normalsterbliche staunen.
Als Sympathisant des Kommunismus musste der junge Flatow in den 1930er-Jahren vor den Nazis fliehen und landete auf Umwegen im brodelnden Schanghai. Dort tummeln sich Abenteurer und Geschäftemacher aus aller Welt, die der Imperialismus nach China verschlagen hat. Wer geschickt und skrupellos genug ist, kann dort schnell reich werden, was dem talentierten Flatow auch gelingt. Damit unterscheidet er sich nicht von anderen Glücksrittern und Kolonialisierungsgewinnlern, die in dieser Zeit außerhalb Europas das große Geld suchen und finden - oft auf Kosten der einheimischen Bevölkerung. Anders als die meisten Eroberer interessiert Flatow sich auch für Land und Leute. Rasch lernt er die chinesische Umgangssprache und knüpft fleißig Kontakte zu Chinesen, die außerhalb der elitären Expatblase leben. Chinesisch lesen und schreiben lernt Flatow laut Ziesemers Recherchen zwar nicht, doch das ist nicht ungewöhnlich für Westler mit chinesischen Sprachkenntnissen und kein Hindernis für persönlichen Austausch - zumal Flatow kein Bücherwurm ist, sondern ein Entdecker. Seine spätere chinesische Frau Wu Mei hat er spontan auf einer Zugfahrt angesprochen, als er sich 1938 vor dem Einmarsch der Japaner nach Hongkong absetzen musste. Von solchen filmreifen Szenen wimmelt es in dem Buch, das dadurch kurzweiliger lesbar wird als manch anderes politisches und wirtschaftliches Sachbuch. Nach der Niederlage Japans im Zweiten Weltkrieg und ihrem Sieg im chinesischen Bürgerkrieg rechnen Maos Kommunisten mit den Imperialisten ab. Auch Flatow landet daher in einem Geheimdienstgefängnis. Anders als die meisten Opfer der Mao-Diktatur kehrt er aber nicht als gebrochener Mensch in die Freiheit zurück, sondern stürzt sich ins internationale China-Geschäft für den Otto-Wolff-Konzern oder den Rohstoffhändler Société des Minerais. Später gründet er eine eigene China-Handelsgesellschaft und wird Mitbegründer der Kommunistischen Partei Deutschlands. Erst Ziesemer hat Flatows Doppelleben als Geschäftemacher und Kader entdeckt, der vor konservativen Wirtschaftsvereinigungen ebenso als Redner auftrat wie vor Jungkommunisten im Ferienlager.
Hat der Autor sich all dies ausgedacht, fragt man sich angesichts der geschickten Dramaturgie des Textes zuweilen. Doch Ziesemer belegt seine Recherchen mit Fotos und Dokumenten wie Visa, Handelsregistereinträgen oder einem Bericht des amerikanischen Geheimdienstes CIA über Flatow. Ziesemer hat Flatows Angehörige um Zugang zu Tagebüchern, Memoiren und Dokumenten gebeten und den persönlichen Datenschatz ausgewertet. Zudem hat er sich in die Archive von Behörden und Institutionen begeben, um die Angaben nachzuprüfen und zu ergänzen.
Ziesemer ist weder Kommunistenfresser noch China-Hasser. Als Jugendlicher hat er wie viele in den 1970er-Jahren begeistert die Mao-Bibel verschlungen, und er verbrachte einen Teil seiner Studienzeit in China. Daher kann er die Faszination junger Leute für kommunistische Ideale ebenso nachvollziehen wie die Begeisterung ehrgeiziger und unternehmungslustiger Menschen vom Schlage Flatows für die Chinesen, ihre bewundernswerte Kultur und die schier unbegrenzten Geschäftschancen in der Volksrepublik. Doch als Wirtschaftsjournalist und ehemaliger Chefredakteur des "Handelsblatts" ist Ziesemer keineswegs blind für die Schattenseiten der chinesischen Machtpolitik, die angesichts der bis vor Kurzem noch vorherrschenden Begeisterung für den wirtschaftlichen Aufstieg des bevölkerungsreichsten Landes der Erde weitgehend aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit verschwunden waren. Das ändert sich gerade. MARK FEHR
Bernd Ziesemer: Maos deutscher Topagent - Wie China die Bundesrepublik eroberte. Campus Verlag, Frankfurt/New York 2023, 232 Seiten
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