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Besprechung vom 12.10.2024
Vier Stämme sollt ihr sein
Wer schrieb bloß diese staatspolitische Meistererzählung? Bernhard Löffler durchstreift Bayerns Geschichte seit 1800 und stößt auf ein Land, in dem Heimatgefühl zur obersten Bürgerpflicht erhoben wurde.
Von Hannes Hintermeier
Von Hannes Hintermeier
Bayern ist zu schön, um wahr zu sein. Und trotzdem hängt die ganze Welt diesem Trachten-Bier-Mia-san-mia-Bild an, das sich so gut vermarkten lässt. Von den gut 70.000 Quadratkilometer Fläche des Bundeslandes entfallen 5400 auf die Alpenregion, aber man tut so, als spiele sich dort alles ab. "Es ist ländlich und bergig und luftig-blau, niemals urban und flach und stickig grau" - diesen Reim macht sich Bernhard Löffler auf dieses Image zum Auftakt seiner "historischen Raumreise", die zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts einsetzt, als Bayern Königreich wurde. Regiert von einer Dynastie, zu deren Programm die Erzeugung von Heimatgefühl gehörte. Löffler zitiert König Ludwig I., der von der "durch alle Zeiten bewährten treuen Anhänglichkeit Unserer Unterthanen an Thron und Vaterland" sprach.
Vielleicht sind die 106 Jahre, die seit dem Ende ihrer Herrschaft vergangen sind, wenig im Vergleich zu den 738 Jahren, welche die Wittelsbacher regierten? Mögliche Reste von monarchistischem Gedankengut ignoriert der Autor geflissentlich - anders als manche seiner Fachkollegen der bayerischen Landesgeschichte sucht er nicht die Nähe zum Hof: Herzog Franz von Bayern, der amtierende Chef des Hauses Wittelsbach, kommt nicht vor.
Durch die Neuordnung Europas bekommt Bayern seine äußere Form, die es im Wesentlichen seit mehr als zweihundert Jahren behalten hat, den Verlust der Rheinpfalz, des Stammlandes der Pfälzer Linie der Wittelsbacher, ausgenommen. Teil des Umbaus zu einem modernen Staatswesen nach französischem Vorbild unter dem Grafen Montgelas war, dass Experten das Ruder übernahmen. Beamte, Kartographen, Geologen, Astronomen, Geometer, Ingenieure, Erfinder schufen durch ihre Vermessung der Welt die Datenbasis. Der im Auftrag der Steuerbehörden bis 1867 erstellte Topographische Atlas umfasst 112 Blätter im Maßstab 1:50.000, die bis weit ins zwanzigste Jahrhundert genutzt wurden. Die Anfänge des Landesamtes für Statistik gehen auf das Jahr 1908 zurück. Aber zu dieser "Dialektik der Aufklärung" gehörte eben immer auch die Option, zu viel staatliche Kontrolle auszuüben - und damit den Eigensinn der Untertanen herauszufordern.
Löffler schiebt viel Material über die große Leinwand und zoomt auf Protagonisten der Verwandlung. Zu diesen zählt er den hessischen Journalisten Wilhelm Heinrich Riehl, den Maximilian II. 1854 an den Hof holt und ihn zum "Oberredakteur für Preßangelegenheiten des kgl. Hauses und des Äußeren" ernennt. Später wird Riehl, der als Begründer der Volkskunde gilt, Direktor des Bayerischen Nationalmuseums und oberster Denkmalschützer. Er erkennt im Aufschwung des Verkehrs nicht nur Modernisierungsgewinne, sondern sieht früh auch die Schattenseiten, heute würde man sagen - die Abgehängten. Die großen Städte profitieren, während Landstädte und Dörfer "in Totenstille und Verödung" absinken, so Riehl 1855.
Beim Thema "Raumordnung" kommt Walter Christaller ins Spiel, der 1893 geborene Geograph und KPD-Sympathisant entwickelt in den Dreißigerjahren die Theorie der zentralen Orte, die Städte als Dienstleistungszentren mit Bedeutungsüberschuss hierarchisiert. Christaller nennt sein Modell, da ist er NSDAP-Mitglied, die Umsetzung des "Führerprinzips" in der Raumordnung. Das kam gut an, die Nationalsozialisten hatten schon 1935 die Hitler unterstellte "Reichsstelle für Raumordnung" installiert. Noch 1944 sieht Christaller als Mitarbeiter im "Stabshauptamt des Reichskommissars für die Festigung deutschen Volkstums" Kapazitäten für Millionen potentieller Umsiedler - Lebensraum im Osten, vor allem in Polen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg beginnt der Umbau des agrarisch geprägten Landes. Dazu gehören auch neue Verkehrswege. Löffler beschreibt den Bau der A 3 von Passau nach Frankfurt am Main als weitreichende Infrastrukturmaßnahme, welche die Route der traditionellen Nord-Südausrichtung des neunzehnten Jahrhunderts um neunzig Grad Richtung Rhein-Main-Gebiet kippte. Die zunehmende Motorisierung bringt den Berufspendler hervor, im Flächenland Bayern sind es besonders viele, die lange Strecken zurücklegen. Wer sich die Metropolen nicht leisten kann, beschleunigt die Entstehung von Schlafstädten im Speckgürtel, während sich der Strom der Metropolenbewohner in ihrer Freizeit in den voralpinen Raum und die Berge ergießt. Bis heute drückt sich das in der Verwendung von Ortsadverbialien aus, die Statusunterschiede beschreiben: Man fährt nach München hinauf, in den Bayerischen Wald hinein und nach Niederbayern hinunter.
Mit dem Fortschritt ist es aber dank der Bevorzugung des Automobils an manchen Stellen nicht so weit her, es gibt heute noch Bahnverbindungen, die nicht schneller als vor hundert Jahren sind. Viele Gebietsreformen kümmern sich nicht um gewachsene Befindlichkeiten, und die Flurbereinigung der Siebzigerjahre ist aus heutiger Sicht eine kontraproduktive Weichenstellung, weil sie die Zerstörung von natürlichem Lebensraum mit sich brachte. Aber auch da ist der Autor deutlich: Keine Generation habe je so viel Flächenversiegelung und Zersiedelung angerichtet wie jene der Boomer.
Bernhard Löffler lehrt bayerische Landesgeschichte an der Universität Regensburg, wo er 1965 auch geboren wurde. Als Oberpfälzer hat er einen genauen Blick auf das, was sich jahrzehntelang an der Ost- und Nordgrenze des Freistaats abspielte - nämlich äußerlich nicht viel, weil der Eiserne Vorhang auf einer Länge von 775 Kilometern die DDR und die Tschechoslowakei von Bayern trennte. Zonenrandgebiet: Wo Straßen enden, wuchern Strukturprobleme, fehlt Geld, sind traditionelle Handelswege gekappt.
Das zentrale Geheimnis bayerischer Kontinuität ist für Löffler das Narrativ von den Stämmen. Vom Frühmittelalter bis in die Gegenwart behauptet es die Einheit von Territorium und Stamm. Ein die Zeiten überdauerndes, friedliebendes Volk, eingebettet in die schönsten Landschaften, das sogar ideologische Sonderwege wie die "Eigenmarke Franken" verdaue. Das sei die eigentliche "staatspolitische Meisterzählung". Und schließlich haben Altbayern, Franken und Schwaben als vierten Stamm auch noch jene mehr als 1,7 Millionen Sudetendeutschen integriert, die in den Nachkriegsjahren auf 6,5 Millionen Einheimische trafen. Man baute ihnen eigene Städte wie Traunreut, Geretsried, Waldkraiburg oder Neutraubling. Bayern schaffte das, aber für die Neubürger war es oft genug ein schwerer Gang.
Heimatpflege ist Staatsräson, diese Pille verschrieben auch die demokratischen Nachfolger von Monarchie und Diktatur dem Wahlvolk. Die Ministerpräsidenten - seit 1957 ausschließlich von der CSU gestellt - hatten gefälligst die Rolle des Landesvaters auszufüllen, auch wenn sie wie ein Franz Josef Strauß gar nicht so fürchterlich gut dafür geeignet waren. Aber die CSU war nun einmal "Die Partei, die das schöne Bayern erfunden hat", wie der Journalist Herbert Riehl-Heyse eines seiner Bücher überschrieb. Löffler greift bis in die Gegenwart aus, der aktuelle Ministerpräsident kommt zweimal vor, aber dass Markus Söder unter Raumentwicklung auch den Weltraum subsumiert und ein Raumfahrtprogramm namens "Bavaria One" aufgelegt hat, lässt er lieber weg.
Überhaupt ist aufschlussreich, womit sich der Autor nicht beschäftigt. Um das Thema Kirchen und Religion macht er einen Bogen, der bayerische Papst kommt nur in einem Nebensatz über Staatsbesuche vor. Die kulturraumprägenden Minister Hans Maier und Hans Zehetmair fehlen wie die Bauunternehmer Schörghuber oder Zwick. Gerhard Polt, die Biermösl Blosn, die seit Jahrzehnten für ein anderes Bayern stehen, lässt Löffler ebenso weg, wie er bei seinen Belegstellen aus der Literatur bei Thoma, Ganghofer, Graf und Feuchtwanger verharrt, als hätte es in den vergangenen hundert Jahren keine literarische Auseinandersetzung mit Bayern gegeben.
Mit seiner Zunft geht Löffler nicht gnädig ins Gericht: Landesgeschichtsschreibung, wie sie von Max Spindler und Karl Bosl und ihren jeweiligen Schulen betrieben wurde, hält er für systemkonform und staatstragend. Die Historiker hätten sich als Einflüsterer der Politik geriert, seien "Produzenten geschichtspolitisch wirksamer Raumbilder" gewesen. Auch wenn das Lektorat die eine oder andere professorale Synonymkette hätte streichen sollen, Löffler hat Lust am Erzählen und an der Zuspitzung. Trachten nennt er "eine staatlich gelenkte Erfindung des neunzehnten Jahrhunderts" und den Bayerischen Rundfunk einen "ausgesprochen aktiven Produzenten bavaristischer Klischees". Zu wahr, um schön zu sein.
Bernhard Löffler: "Das Land der Bayern". Geschichte und Geschichten von 1800 bis heute.
C. H. Beck Verlag, München 2024.
400 S., Abb., geb.
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