Besprechung vom 18.07.2021
Mama, Papa, wo seid ihr?
Aufklärungsbücher sind oft nützlich, manchmal peinlich, stets umstritten. Ein neues Buch will das klassische Familienbild modernisieren.
Von Jörg Thomann
Was Kinderfragen angeht, ist man nach langen Jahren als Vater halbwegs gewappnet. Man kennt die Bandbreite von Themen, die ganz unvermittelt angesprochen werden können: Wie groß ist der Jupiter? Wozu braucht man die Milz? Wie viele Wochen habe ich bereits gelebt? Und man weiß diese Fragen zu beantworten, wenn auch häufig mit dem Standardsatz: "Das kann ich dir leider nicht genau sagen, da muss ich mal im Internet nachgucken."
Ab und zu aber gibt es Situationen, in denen die ganze Routine nicht hilft. Der Moment zum Beispiel, in dem ein zehn Jahre altes Mädchen, das heimlich die alten Bravo-Ausgaben der großen Schwester durchstöbert hat, fragt: "Papa, was ist eigentlich ein Samenerguss?"
Tja. Nun. Eine rein technische Antwort führt nicht recht weiter, es braucht schon einen größeren Kontext, womit wir beim Orgasmus wären, der eine ganz interessante Sache ist und den es übrigens, ganz wichtig, denn es wird ja mit einem Mädchen geredet, auch bei Frauen gibt, und wenn man jetzt ins Dozieren gerät über sexuelle Selbstbestimmung und über Gefühle, die man zu zweit und, nebenbei bemerkt, auch allein erleben kann, dann hat man am Ende schlimmstenfalls viel mehr erzählt, als das Kind von seinem Vater je hören wollte. Am besten lenkt man das Gespräch dann rasch auf den Jupiter, der übrigens einen Durchmesser von 143 000 Kilometern hat.
Nun ist man, wenn man etwas Glück hat, angesichts kindlicher Fragen nach der menschlichen Fortpflanzung nicht ganz auf sich allein gestellt. Es gibt, idealerweise, einen unbefangenen, eloquenten Partner, es gibt - sofern nicht dem Lockdown geopfert - Sexualkunde als Schulfach, und es gibt den Freundeskreis des Kindes, der freilich eher mit farbenfrohem Vokabular beeindruckt als mit biologischem Tiefenwissen. Und es gibt Bücher. Solche für Teenager, aber auch welche für kleinere Kinder, mit unterschiedlichsten Ansätzen. All diese Bücher haben meist beste Absichten, oft sind sie nützlich, oft auch etwas peinlich, fast immer aber umstritten. Den einen sind sie zu explizit, anderen zu prüde, zu altmodisch oder zu progressiv. Auch das Buch "Ein Baby! Wie eine Familie entsteht", das diese Woche bei Penguin Junior erscheint, wird für Diskussionen sorgen.
Der Verlag bewirbt das Werk der Londoner Kinderbuchlektorin Rachel Greener als "Aufklärungsbuch, das alle Familienformen einschließt" und auch "alle Körperformen" - und damit abbildet, "was schon längst gesellschaftliche Realität ist". Da ist was dran, und dass das Buch in Viktor Orbáns Ungarn sofort auf dem Index landen würde, ist nicht das Schlechteste, was man derzeit über ein Aufklärungsbuch sagen kann.
Auf vielen niedlichen, bunten Bildern zeigt die Illustratorin Clare Owen Paare, von denen einer dunkle und die andere helle Haut hat. Paare, von denen einer im Rollstuhl sitzt, und rein weibliche oder männliche Paare. Menschen mit Kind ganz ohne Partner und Eltern, die zu dritt sind. "Du und deine Familie, ihr seid einfach großartig - so wie ihr seid!", versichert die Autorin der jungen Leserschaft.
Gar nicht viel anders klingt die Botschaft eines anderen Buchs, das als Klassiker der Aufklärung gilt: Im Haus Nummer 18 "wohnen mehrere Arten von Familien", heißt es in "Peter, Ida und Minimum", das 1979 erschien, 1980 den Deutschen Jugendliteraturpreis erhielt und bis heute ordentlich verkauft wird. Matthias aus dem dritten Stock wohnt mit seinem Vater zusammen, Karin aus dem zweiten mit ihrer Mutter, es gibt eine Großfamilie aus Griechenland und die Svenssons, die ein Kind adoptieren möchten. Auch in anderer Hinsicht wirkt das Buch der Schwedinnen Grethe Fagerström und Gunilla Hansson modern: Die Mutter sorgt sich, ob man einen Kindergartenplatz bekommt, und am Ende merken die Geschwister Peter und Ida, dass so ein plärrendes Baby durchaus nerven kann. Schon deutlicher dem Zeitgeist der Siebziger verhaftet sind manche Ausdrücke - sagt heute noch jemand "man bumst"? - und die Unbekümmertheit, mit welcher der Vater mal eben zum Block greift und die ganze Familie nackt zeichnet.
Doch nicht deswegen will sich "Ein Baby!" abgrenzen. Wenn es in der Mitteilung von Penguin selbstbewusst heißt, "Peter, Ida und Minimum war gestern!", dann bezieht sich das vor allem darauf, dass Peter und Ida, deren noch zu gebärendes Geschwisterchen den Arbeitstitel Minimum trägt, ganz klassisch zusammen mit Mama und Papa leben. "Ein Baby!" präsentiert da ein viel weiteres Spektrum: Die jungen Leser erfahren, dass Samenzellen in die Gebärmutter eingepflanzt oder im Labor mit der Eizelle zusammengesetzt werden können und dass es die Leihmutterschaft gibt, die in Deutschland allerdings bislang verboten ist. Sex als Option wird auch angeboten, doch mit Rücksicht auf transsexuelle Menschen heißt es hier: "Eine Person mit einem Penis und eine Person mit einer Scheide können beim Sex ein Baby zeugen, wenn sie das möchten."
Mit größtmöglicher Behutsamkeit geht schon das im Vorjahr erschienene "Wie entsteht ein Baby?" vor, das "ein Buch für jede Art von Familie und jede Art von Kind" sein möchte. Auf seinen Seiten tummeln sich nicht nur an Kalmare erinnernde Samenzellen, sondern kunterbunte, lustige Figuren ohne erkennbar weibliche oder männliche Merkmale, die an Keith Harings Kreationen erinnern und über die es etwa heißt: "Nicht alle Menschen haben Eizellen in sich. Manche ja, manche nein." Man liefere "keine Informationen zu Geschlechtsverkehr, Samenspende, Fruchtbarkeitsbehandlung, Leihmutterschaft oder Adoption", schreibt der kanadische Autor Cory Silverberg; auffällig viele Aufklärungsbücher auf dem deutschen Markt sind Importe aus dem Ausland. Der Akt der Empfängnis wird von Silverberg biologisch fragwürdig, doch einigermaßen poetisch wie folgt beschrieben: "Wenn sich eine Eizelle und eine Samenzelle treffen, wirbeln sie in einem ganz besonderen Tanz miteinander herum. Während sie tanzen, unterhalten sie sich. Die Eizelle erzählt der Samenzelle alle Geschichten über den Körper, aus dem sie kommt."
Es ist eine Frage, der sich noch jedes Kinderbuch über Sexualität stellen muss: Wie viel Realismus vertragen kleine Kinder - und wie viel deren Eltern? Seit Jahrzehnten in nahezu jedem Kinderzimmer finden sich die Titel der "Wieso? Weshalb? Warum?"-Reihe, bei denen die jungen Leser viele Klappen öffnen können. Der Band "Woher die kleinen Kinder kommen" ist 20 Jahre alt, noch im März dieses Jahres aber empört sich im Internet eine Rezensentin über die Seite, auf der ein Junge - "Ob Mama und Papa schon wach sind?" - nach der Klinke der elterlichen Schlafzimmertür greift. Öffnet er beziehungsweise das lesende Kind die Tür, sieht man eine nackte Frau, die auf einem nackten Mann liegt. "Geht gar nicht", so das Urteil der Rezensentin. Auch dieses Buch bemüht sich um einen moderneren Anstrich, die Mutter trägt Kurzhaarschnitt, und es wird festgestellt: "Manche Mädchen spielen gern Fußball, manche Jungen backen gerne Kuchen. ,Typisch Junge' oder ,typisch Mädchen' gibt es nicht." Schon sein erster Satz jedoch taugt heute zum Stein des Anstoßes, nicht nur bei Alleinerziehenden oder gleichgeschlechtlichen Paaren: "Alle Babys haben einen Vater und eine Mutter."
Das niederländische Buch "Schokostreuselgroß. Ein Baby in Mamas Bauch" von Bette Westera (2019) traut sich noch von einer Mutter zu erzählen, die das Kinderzimmer des Sohns blau streichen lässt und das der Tochter rosa. Davon abgesehen, wird auch hier auf eine differenzierte Darstellung Wert gelegt: Es geht um eine Hausgeburt, um Adoption und um Thomas, der zwei Mütter hat ("Sie sind beide nett, aber Mama Lieke ist die nettere"); erst irgendwann als "Überraschung für später" wird er erfahren, wer sein Vater ist. Und man lernt, dass manche Babys zu früh geboren werden und auch sterben: ein wiederum heikles Thema, mit dem manche Eltern ihre Kinder ungern konfrontiert sehen würden. Ausführlicher dargestellt wird auch der Sexualakt, freilich nicht ohne Abstecher in belletristische Gefilde ("Den Samen in Papas Penis gefällt es auch").
In Sonja Blattmanns schon älterem Buch "Mein erstes Haus war Mamis Bauch" (2007) wird Sex mit "Kribbelgefühlen" beschrieben und ein weiteres Mal die Metapher des Tanzes eingesetzt: "Sie halten sich fest umschlungen und tanzen mit ihren Körpern einen ururalten Liebestanz." Prosaischer und gut nachvollziehbar werden die Gedanken beschrieben, die das frisch aufgeklärte Kind sich macht: "Aber nackt aufeinander liegen? Sofie schaut ihre Mama und ihren Papa an. Sie weiß nicht, wie sie das findet."
"Wau, waren die wild aufeinander. Sie liebten sich . . . und machten dich", heißt es in Babette Coles "Ei, was sprießt denn da?" von 1999, das im englischen Original den hübscheren Titel "Hair in Funny Places" trägt. Hier hat man möglicherweise verstörenden Realismus konsequent verbannt, die Aufklärung übernimmt ein Teddybär, und Schuld am ganzen Schlamassel tragen zwei an Rattenhunde erinnernde Monster namens Herr und Frau Hormon.
Eine solche Herangehensweise wäre dem neuen Buch "Ein Baby! Wie eine Familie entsteht" fremd - allein schon wegen der klaren Geschlechteridentitäten des Hormonpaars. Die Autorin Rachel Greener selbst beschreitet einen Weg, der Verfechtern sogenannter sensibler Sprache vertraut ist, andere aber noch irritieren wird: Ein Baby mit Hoden und Penis ist hier kein Junge mehr, nein, man "nennt" es einen Jungen. Wen es gar nicht mehr gibt, das sind jene, die in den anderen Büchern ganz am Anfang stehen: Mama und Papa. Die einzige Mutter, die in besagtem Band noch genannt wird, ist die Gebärmutter.
Das Buch hat zweifellos das Potential, seinen jungen Betrachtern viel Freude zu machen. Ein Kind mit dunkler Haut in einer hellhäutigen Familie, ein Kind mit zwei Vätern oder Müttern: Was es ihnen bedeuten mag, sich hier völlig natürlich repräsentiert zu sehen, ist kaum zu ermessen. Ob eine solche Inklusion nur zu haben ist um den Preis einer Verbannung von Begriffen, die für die große Mehrheit positiv besetzt und unverfänglich sind, ist eine andere Frage. So droht das Buch Leser nicht nur ein-, sondern auch auszuschließen: Wen die Sprachregelung verstört, der wird es seinem Kind kaum vorlesen. Dabei werden auch Personen mit Penis oder mit Scheide, die sich ihrem biologischen Geschlecht nicht zugehörig fühlen, von ihren Kindern in irgendeiner Form benannt werden - und manche ja womöglich auch mit "Mama" oder "Papa".
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