Die erste umfassende Darstellung des Jugendstils in Berlin stellt sieben Künstler vor, die hier den Jugendstil prägten: Bruno Möhring, Alfred Grenander, Otto Eckmann, Henry van de Velde, August Endell, Theodor Schmuz-Baudiß und Peter Behrens. Der zweite Teil entfaltet ein Panorama von Jugendstilwerken im öffentlichen wie im privaten Raum, das sich den Zeitgenossen bot, heute jedoch größtenteils verschwunden ist: Öffentliche und private Gebäude, Verkehrsbauten, Gestaltung und Einrichtungen von Büros, Ladenräumen und Privatwohnungen. Kunsthandlungen und Warenhäuser präsentierten Werke und Waren im Jugendstil in einer großen Vielzahl und Qualität. Es zeigt sich, dass Berlin in einem weit größeren Maße als bisher angenommen ein Zentrum des Jugendstils war.
Blick ins Buch
Eine Ecke des 1901 eingerichteten 'Frisiersalons Haby' mit Stühlen und Spiegeln ist heute im Stadtmuseum zu bewundern, Reminiszenz an eine Zeit, die sehr fern gerückt ist und doch im Stadtbild erstaunlich präsent. Und nun endlich gewürdigt wird. (Bernhard Schulz in: Tagesspiegel, 02.01.2024, https://www.tagesspiegel.de/kultur/neue-bucher-zum-jugendstil-in-berlin-lachend-leben-in-heller-zeit-10995217.html)
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Besprechung vom 05.04.2024
Mit der U-Bahn durchs Gesamtkunstwerk
Steinerne Naturformen gegen die Kälte der Großstadt: Birgit Ströbel legt eine umfassende Darstellung des architektonischen Jugendstils in Berlin vor.
Wer in Berlin auf einer der ersten U-Bahn-Linien, der heutigen U2, vom Bahnhof Zoo zum Potsdamer Platz unterwegs ist, durchquert zwei der bedeutendsten Zeugnisse des architektonischen Jugendstils: den U-Bahnhof Wittenbergplatz sowie zwei Stationen weiter den U-Bahnhof Bülowstraße, von dem man unter anderem auf die Potsdamer Straße gelangt. Raumvorstellungen und Gestaltungsweisen der um 1900 aktuellen, von Naturformen geprägten Kunst werden an beiden Stationen nur für jene Passagiere erfahrbar, die hier nicht nur aus- oder umsteigen, sondern sich Zeit nehmen, um die Gestaltungsformen aus Stein, Glas, Stahl, Keramik und anderen Materialien im Innen- und Außenbereich genauer anzusehen. Dies lässt Birgit Ströbels Buch zum Berliner Jugendstil schon bei der ersten Durchsicht der Bilder deutlich werden.
Die genannten Stationen unterscheiden sich deutlich. Der U-Bahnhof Wittenbergplatz ist ein unterirdisches Gesamtkunstwerk aus gestalteten Wänden, Decken, Stützpfeilern, Geländern sowie einem Uhrenturm und einem Fahrkartenhäuschen im Zentrum der Bahnsteigtreppen. Entworfen hat ihn der 1863 in Schweden geborene Architekt Alfred Grenander, der nach einem Studium an der Technischen Hochschule ab 1888 in verschiedenen Berliner Büros arbeitete - zeitweise in enger Verbindung mit anderen Größen der Berliner Architektur wie Otto Spalding und Hermann Muthesius. Von 1900 bis zu seinem Tod im Jahr 1931 war Grenander in Berlin für die Gestaltung von etwa 70 Haltepunkten der U-Bahn-Linien 1 und 2 tätig. Sie sind zum Teil erhalten und weisen jeweils besondere ästhetische Merkmale auf.
Im Unterschied zum Umsteigebahnhof Wittenbergplatz ist die Station Bülowstraße ein kleiner dimensionierter Hochbahnhof. Er wurde 1902 von Bruno Möhring mit künstlerischen Elementen aus behauenen Steinen, geformtem Eisen und Glas entworfen. Einige Teile sind trotz Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg erhalten geblieben. Beide Bahnhöfe lassen deutlich werden, dass dem öffentlichen Nahverkehr im urbanen Raum um die Jahrhundertwende - ähnlich wie zuvor in Wien - ein großer Stellenwert zugewiesen wurde. Durch die künstlich hergestellten Naturformen sollte die kalte Großstadt offenbar sinnenfroher gemacht werden.
Der ästhetische Anspruch reicht bis in die späten Zwanzigerjahre, als der Jugendstil, nicht zuletzt von deren Protagonisten, durch sachliche Formen im Sinne des Bauhauses abgelöst wurde. Anschaulich wird diese Erneuerung am markanten Endbahnhof der heutigen U-Bahnlinie 3 (Krumme Lanke), der ebenfalls von Grenander entworfen und 1929 eröffnet wurde. Er stellt wohl nicht zufällig einen deutlichen Kontrast zum unweit entfernten, 1904 eröffneten Jugendstil-Bahnhof der Bürogemeinschaft Hart & Lesser am Mexikoplatz dar.
Ströbel hat diese und viele andere Gebäude, Räume und Objekte des Berliner Jugendstils genau beschrieben und damit den ersten Überblick zu einer fast zwanzig Jahre dauernden Phase der Kunst vorgelegt. Im ersten Teil widmet sie sich Leben und Werk von fünf Gestaltern, die zeitweise oder überwiegend in Berlin in unterschiedlichen Bereichen - vom Privathaus über öffentliche Einrichtungen bis hin zur Möbel- und Porzellanherstellung - gearbeitet haben. Neben Möhring und Grenander sind dies Otto Eckmann, Henry van de Velde und nicht zuletzt August Endell, der einen Innenhof sowie mehrere, bis heute erhaltene Lokale der bei Touristen beliebten Hackeschen Höfe in Berlin-Mitte gestaltet hat.
Solche bekannten, aber auch weniger besuchten Gebäude und Räume stellt Ströbel im zweiten Teil ihres Buches vor. Neben den präzisen Beschreibungen und dem übersichtlichen Nachweis der Forschungsliteratur ist die umfassende Bebilderung, die eng am Text bleibt, eine der großen Stärken des Buches. Der ursprüngliche Zustand der Gebäude und Objekte wird hier auf der Grundlage überlieferter Fotografien ebenso dokumentiert wie der heutige Zustand durch farbige Fotos in Total- und Detailaufnahmen. Zwar ist im Bombenkrieg vieles zerstört oder später durch Desinteresse entsorgt worden, doch blieb eben auch erstaunlich viel erhalten: sowohl im öffentlichen Raum als auch in Museen. Leider fehlt ein Orts- und Straßenverzeichnis, um die Darstellungen für Besichtigungen effektiv zu benutzen.
Ein Mangel liegt darin, dass der Jugendstil zum überwiegenden Teil auf Architektur und Produktgestaltung begrenzt wird. Malerei und Grafik werden kaum, die Literatur gar nicht berücksichtigt, obwohl dichterische und ästhetische Schriften nicht nur zur Herausbildung, sondern auch zur Popularisierung der neuen Kunstrichtung beigetragen haben. Auch die Abgrenzung zum vorausgehenden Historismus und die Überwindung des Jugendstils durch die hier bereits virulenten Ideen des neusachlichen Funktionalismus sind bereits in zeitgenössischen Schriften diskutiert worden, wie ein einschlägiger Sammelband mit grundlegenden Beiträgen zeigt, den Jost Hermand 1971 herausgegeben hat.
Bedauerlich ist Ströbels Beschränkung nicht zuletzt deshalb, weil es gerade in Berlin viele Überschneidungen zwischen Architektur, Produktgestaltung, bildender Kunst und Literatur gibt, darunter unter anderem die von Ströbel erwähnte Buchgrafik von Peter Behrens, der seit 1907 in Berlin zu den Protagonisten der Neuen Sachlichkeit gehörte, August Endells Zugehörigkeit zum Münchner Kreis um Stefan George, dessen frühe Gedichte zu den wichtigsten Zeugnissen des literarischen Jugendstils gehören, oder die frühe Lyrik von Else Lasker-Schüler, deren Ehemann Herwarth Walden zu den ersten Verfechtern moderner Kunst, Literatur und Architektur in Berlin gehörte. Das Defizit ändert jedoch nichts daran, dass Ströbels Buch die zweifellos wichtigste Grundlage für eine umfassende Darstellung des architektonischen Jugendstils in Berlin liefert, die bisher auf Städte wie Darmstadt, Wien, Brüssel oder Paris beschränkt blieb. DETLEV SCHÖTTKER
Birgit Ströbel: "Jugendstil in Berlin". Künstler, Räume,
Objekte.
Deutscher Kunstverlag, Berlin/Boston 2023. 448 S., Abb., geb.
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