Freiheit in der Musik: musikalische Revolutionen und neue Klangwelten
Die Neue Musik ist nicht in einem Augenblick entstanden: Spätestens ab 1950 haben Komponisten sich mehrfach eine neue Tonkunst vorgestellt, in Manifesten, in ihren Lebenswegen und ihren Kompositionen realisiert und damit eine ganz eigene, extrem farbige Bewegung angestoßen.
Also eine westliche Erfindung nur für Spezialisten? Weit gefehlt! Björn Gottstein beleuchtet das Phänomen von seinen Anfängen bis heute in all seinen Facetten. Die Geschichte der Neuen Musik wird dabei sondiert (immer wieder kommen einzelne Komponisten zu Wort, wird ihr spezifisches Werk vorgestellt), kuratiert (das Buch versucht nichts weniger als einen Gesamtüberblick) und strukturiert (was hängt wie womit zusammen?) - eine mitreißende, faszinierende musikalische Entdeckungsreise von einem begnadeten Erzähler und Kenner der Materie und ein Muss auch für den Fan Klassischer Musik.
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Besprechung vom 29.10.2024
Lass den Gartengrill erklingen
Fortschritt muss schon sein: Björn Gottstein macht auf eingängige Weise mit Entwicklungen in der Musik der vergangenen achtzig Jahre bekannt
Der 1919 vom Musikkritiker Paul Bekker geprägte Begriff der "Neuen Musik", damals noch mit großem N geschrieben, hat sich im Lauf der Zeit immer mehr abgeschliffen. Stand er einst für Traditionskritik, Zukunftshoffnung und ästhetischen Fortschritt, so wurde sein Bedeutungsfeld in der Postmoderne ins Uferlose erweitert, auch der Blick zurück in die Vergangenheit galt nun als "neu". Heute sind die Grenzen der neuen Musik, wenn der Begriff denn noch verwendet wird, vollends unscharf geworden. Die notorische Exklusivität der Avantgardezirkel ist einem inklusiven Denken gewichen, das alles, was den aktuellen Zeitgeist widerspiegelt, in den Geltungsbereich der neuen Musik hereinholen möchte. Es herrscht flächendeckender Pluralismus.
An diesem Punkt setzt Björn Gottstein mit seinem Buch "Der Klang der Gegenwart" an. Im Untertitel nennt er es "Eine kurze Geschichte der Neuen Musik", vermeidet aber angesichts des unübersichtlichen Nebeneinanders der Erscheinungen wohlweislich eine chronologische Darstellung. Er entwirft vielmehr eine Art Phänomenologie der neuen Musik in Form einer Bestandsaufnahme all dessen, was heute im einschlägigen Veranstaltungssektor angeboten wird und durch die Medien überall und jederzeit erreichbar ist. Er wolle möglichst viel von dem abbilden, was seit den 1940er Jahren in der Neuen Musik passiert ist, schreibt er im Vorwort. Als früherer Rundfunkredakteur für neue Musik, der sechs Jahre lang die Donaueschinger Musiktage geleitet hat und heute bei der Ernst von Siemens Musikstiftung tätig ist, kann er sich dabei auf ein breites Erfahrungswissen abstützen.
Auswahl und Darstellung des Stoffs machen deutlich: Gottstein ist kein Freund des ästhetischen "Anything goes". Im Gegenteil, er bringt sogar den Begriff der Neuen Musik wieder ins Gespräch - wohlverstanden mit dem seit der Postmoderne verpönten großen N, in dem etwas vom alten Exklusivitätsanspruch wieder aufscheint. Damit errichtet er paradoxerweise einen Zaun, um draußen zu halten, was dem "Ethos der Neuen Musik, Grenzen fortwährend zu überschreiten", nicht genügt. Ein unlösbarer Widerspruch, so alt wie die neue Musik.
Außen vor bleibt damit etwa das phänomenale, reihentechnisch basierte Spätwerk von Igor Strawinsky - ist es nicht "neu" genug, weil der Serialismus in Darmstadt ja schon erfunden war? Oder Benjamin Britten, eine andere herausragende Gestalt im zwanzigsten Jahrhundert, wenn auch kein Materialrevolutionär. Gottstein, stets der Transparenz verpflichtet, spricht die Lücke selbst an. Die Ästhetik, für die Britten steht, scheint ihn wenig zu interessieren. Seine Aufmerksamkeit gilt in erster Linie den Komponisten und Strömungen, auf die in irgendeiner Weise das Attribut "fortschrittlich" passt, von Darmstadt über John Cage bis zu den heutigen Festivalkomponisten.
Unberücksichtigt bleibt leider auch fast das gesamte Schaffen der osteuropäischen Komponisten, deren künstlerisches Ethos sich im Sozialismus nicht nur in Fragen des Materials, sondern auch auf einer existenziellen Ebene beweisen musste. Man stößt nur auf einige Namen wie Gubaidulina, Kurtág oder Penderecki, die schon vor 1989 gelegentlich in der Bundesrepublik auftauchten. Symptomatisch ist, dass das Festival Warschauer Herbst, das wegen seiner hart erkämpften ästhetischen Offenheit für die Komponisten im Ostblock ein einzigartiges Fenster zur Freiheit darstellte, nur beiläufig erwähnt wird, die Donaueschinger Musiktage dafür gleich zehn Mal. Mit seiner Mischung von hoher fachlicher Kompetenz und blinden Flecken ist das Buch somit auch ein Spiegel der Programmpolitik, die jahrzehntelang den westdeutschen Festivalbetrieb dominierte und sich erst in jüngster Zeit - übrigens auch dank Kuratoren wie Gottstein - von den letzten Krusten eines dogmatischen Musikbegriffs befreit hat.
Der schwer zu bändigende Stoff ist nach Themen geordnet, was erstaunlich gut aufgeht. In siebzehn Kapiteln mit Titeln wie "Neue Weltmusik - Neue Musik in einer postkolonialen Welt", "Elektronische Musik und Musik am Computer", "New York - Eine Stadt und ihre Musik" oder "Rituale - Ein Tor in andere Welten" werden die vielfältigen Erscheinungsformen und Trends schlaglichtartig beleuchtet. Technische, soziokulturelle und ästhetische Kriterien überschneiden sich dabei. Aufgrund der Fülle des Materials erschöpft sich der geraffte Überblick zwar manchmal in Namedropping, in der Regel dominiert aber die sorgfältige Beschreibung. Das geht auch bis zur Kuriositätenschau, etwa im Kapitel "Bastler, Tüftler, Zweckentfremder", wo man erfährt, was ein Lupophon ist und wie ein Gartengrill zum Klingen gebracht werden kann. Aber auch künstlerisch folgenreiche Erfindungen wie Theremin und Ondes Martenot werden hier vorgestellt.
Das Buch ist flüssig und frei von Fachjargon geschrieben. Fachbegriffe werden immer kurz erläutert, kontroverse Sachverhalte auf ihre Gründe hin untersucht, und wo Kritik angebracht ist, wie etwa bei der unbedachten Aneignung fremder kultureller Werte, erfolgt sie auf transparente Weise und ohne Militanz. Einen belehrenden Tonfall vermeidet der Autor ebenso wie vorschnelle Parteinahmen und aufdringliche Bewertungen, was für ein Fachgebiet, in das immer viel Weltanschauung hineinspielt, einen Pluspunkt darstellt.
Die Lektüre verlangt wenig Vorkenntnisse, weckt aber Neugier auf mehr. Mit seinem lockeren, manchmal feuilletonistischen und jederzeit vertrauenswürdigen Erzählstil gelingt Gottstein das seltene Kunststück, eine als schwierig geltende Musik auf allgemein verständliche Weise darzustellen. Den Anspruch, einem nicht spezialisierten Publikum eine Verständnishilfe für die komplexe Materie an die Hand zu geben, löst er damit ein gutes Stück weit ein. MAX NYFFELER
Björn Gottstein: "Der Klang der Gegenwart". Eine kurze Geschichte der neuen Musik.
Reclam Verlag, Stuttgart 2024.
272 S., Abb., geb.
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