Besprechung vom 05.06.2023
Und so lebe ich jetzt
Zivilisationsbruch: In Carl Nixons "Kerbholz" verschwinden drei Kinder aus der englischen Oberschicht im Hinterland der neuseeländischen Südinsel - in einem rechtsfreien Raum.
Im April 1978 verunglückt die Familie Chamberlain in einer stürmischen Regennacht auf der Südinsel Neuseelands. Der Wagen kommt von der Straße ab und stürzt zwanzig Meter tief in einen Fluss, Vater John und Mutter Julia sterben, die drei Kinder auf der Rückbank überleben verletzt. Die Chamberlains waren auf einer Urlaubsfahrt, bevor John seine neue Stelle im Management einer großen Ölfirma antreten sollte. Eine Station auf der Karriereleiter, die ihn nach ein paar Jahren zurück in seine Heimat London führen sollte. Katherine, die Älteste, und ihre Brüder Maurice und Tommy sitzen tagelang neben dem halb versunkenen Wrack und müssen mitansehen, wie Aale sich an den im Auto eingeklemmten Leichnamen ihrer Eltern gütlich tun. Die Gegend ist menschenleer und wild, die drei Oberschichtkinder sind nicht im Geringsten auf die Wendung vorbereitet, die ihr Leben nimmt, als ein vierschrötiger Bauer namens Peters sie aufgabelt und auf seine Farm mitnimmt. Dort haust er zusammen mit einer heilkundigen Frau namens Martha, die alles Lebensnotwendige anbaut, während er zum Gelderwerb eine Cannabis-Plantage betreibt.
Den Versprechungen, die Kinder in die nächste Stadt zu bringen, folgen keine Taten. Stattdessen werden sie als Arbeiter eingesetzt, man könnte es auch Versklavung nennen. Tommys Kopfverletzung wächst sich zu einer dauerhaften geistigen Beschädigung aus, Maurice ist auf eine Krücke angewiesen, will aber unbedingt ausreißen und sich, anders als seine große Schwester, nicht in sein Schicksal fügen. Katherine lernt viel über Pflanzen und deren heilende Wirkung, bemerkt aber nicht, wie sie von Martha in die Tochterrolle manövriert wird. Als Peters den Kindern ein Kerbholz mit hohem Schuldenstand aushändigt, ist die Gefangenschaft längst ein Dauerzustand.
Carl Nixon, 1967 in Christchurch geboren, legt mit "Kerbholz" sein fünftes Buch auf Deutsch vor, seit 2012 sind drei Romane und ein Band mit Storys erschienen. Der Roman ist kein Krimi im landläufigen Sinn, Polizeiarbeit taucht nur in Spurenelementen auf. Und anders als in früheren Büchern spielen diesmal Frauen die Hauptrollen.
Drei Wochen dauert es, bis die Nachricht vom Verschwinden der Chamberlains London erreicht. Suzanne Barnett, die ältere Schwester der verunglückten Julia, bricht mit ihrem Mann und einem Freund auf, um die Vermissten zu suchen. Es ist eine Fahrt in die Wildnis, an den Rand der Zivilisation. Nur neun der sechsunddreißig Kapitel erzählen aus Sicht Suzanne Barnetts. Sie genügen dem Autor, um den Gegensatz zwischen alter und neuer Welt aufzureißen. Suzanne sucht eigentlich die verlorene Schwester, denn "in Wahrheit hatte sie sich nie für Julias Mann erwärmen können. Er war ihr immer wie jemand vorgekommen, der an seine Privilegien gewöhnt und dem nicht bewusst war, wie sehr ihn das Leben vom ersten Tag an auf Rosen gebettet hatte." Julia hat ihm und der Kinder zuliebe auf eine künstlerische Laufbahn verzichtet. Weswegen Suzanne glaubt, "dass John in vielerlei Hinsicht schlecht für Julia war".
Gegen den zunehmenden Widerstand ihres Mannes lässt sie es sich nicht nehmen, in den ersten Jahren nach dem Verschwinden der Familie fünfmal nach Neuseeland zu reisen. Ohne Ergebnisse. Was sie nicht wissen kann: Zwei der Kinder sind schon tot, als Suzanne zu ihrem letzten Aufenthalt eintrifft und dabei auf die Farm stößt. Was dort geschieht, ist verstörend: Höhepunkt und Anti-Klimax in einem.
"Kerbholz" spielt auf verschiedenen Zeitebenen. Nach dem Unfall im Jahr 1978 reihen sich Tage, Monate und Jahre für die Kinder auf der Farm äußerlich ununterscheidbar aneinander, die innere Dynamik dieser Regressionsgeschichte macht den Hauptteil der dreihundert Seiten aus. Viele Jahre später, als 2011 die sterblichen Überreste von Maurice in England beigesetzt werden, wird in Rückblenden das Leben Suzannes nachgereicht. Sie ist mittlerweile geschieden, Großmutter geworden, und sie beherrscht die Fassade noch immer perfekt, dazu gehört auch, ihre Umwelt über ihren Zustand zu täuschen. "Sie würde eine Show abziehen, die Rolle der munteren älteren Dame spielen, der Kämpferin, des zähen alten Vogels, der noch jede Menge Leben in sich hatte. Auch wenn sie ziemlich sicher war, dass das nicht stimmte."
Nixon komponiert kunstvoll. Dazu gehört auch, den Sprachverlust der Kinder in den Prozess einsickern zu lassen, in dessen Verlauf sie sich in tierhafte Gestalten verwandeln - und sich immer weiter von ihrer Herkunft entfernen. Dort, im fernen London, denkt ihre Tante viele Jahre nicht daran aufzugeben. Aber letztlich kreisen hier zwei Planeten, deren Bahnen sich kaum noch überschneiden: Hier die neue Welt mit ihren rechtsfreien Räumen, dort die zivilisatorischen Ausläufer des Empires, das Ende des achtzehnten Jahrhunderts begonnen hatte, Neuseeland zu besiedeln. Obwohl man in beiden Welten die gleiche Sprache spricht, tun sich himmelweite Unterschiede im gegenseitigen Verstehen auf.
Derweil mutiert Katherine zu Kate, dann zu Kat, zu einem kreatürlichen Muttertier. Und Suzanne verharrt in ihrer Klassengesellschaft, ahnend, dass diese überholt ist. Ihr bleiben Erinnerungen, denen sie nicht mehr trauen kann. Und ungelöste Fragen. Mit den Knochen von Maurice kommt auch das Kerbholz nach England. Dessen wahre Geschichte kann von den Hinterbliebenen nicht mehr gedeutet werden. HANNES HINTERMEIER
Carl Nixon: "Kerbholz". Roman.
Aus dem Englischen von Jan Karsten.
CulturBooks Verlag, Hamburg 2023. 304 S., geb.
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