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Besprechung vom 20.11.2024
Deutschland, eisig Gegenland
Blick von außen: In "Die doppelte Nacht" berichtet Carlo Levi über seine Reise im Jahr 1958
Der Schriftsteller Carlo Levi tat sich schwer mit Deutschland. Lange war es auch für ihn, den assimilierten Juden, der 1935 nach Süditalien verbannt wurde und darüber den Roman "Christus kam nur bis Eboli" schrieb, "ein verbotenes Land". Etwa sechshundert Titel soll er für das Buch über seine Deutschlandreise im Jahr 1958 notiert haben, darunter "Faust und Hitler", "Das Wunder der Leere" und "Abfall und Elend des Vierten Reiches". Auch mit dem Anlass, der Einladung zu einem Vortrag und Verhandlungen mit Verlegern, konnte er sich nicht anfreunden. "Ein erstes Bild", das bei früheren Reisen zur Initiation, ja zum Schlüssel wurde, stellte sich nicht ein. Umso umfangreicher geriet das Vorwort, in dem er seine Erwartungen und Ressentiments sortiert.
Eine Winterreise. Eisig der Wind im Dezember, kalt und grau das Wetter - wie die Wirklichkeit. Warm wird Levi mit Deutschland nicht, er hält Abstand und sich, wie er im Vorwort erklärt, an sein Vorwissen und seine Vorstellungen. Die Diskrepanz zwischen seinen "spärlichen" Sprachkenntnissen und seiner profunden Vertrautheit mit der deutschen Kultur mag die Distanz verstärkt haben: Gesichter, denen er begegnet, erinnern ihn an Gemälde von Lochner, Schongauer oder Grünewald, in Schwabing fragt er, wo "die Däublers, die Kurt Eisners, die Gundolfs und all die anderen" sind, er zitiert Tacitus, Richard Wagner und, als er auf Stuttgart zufährt, Hölderlin. Der Titel "Die doppelte Nacht" enthält eine Anspielung auf Goethe, die gegenüber dem Original "La doppia notte dei tigli" gekappt ist: "Funkenblicke seh ich sprühen / Durch der Linden Doppelnacht", singt der Türmer Lynkeus im fünften Akt von "Faust II", als Mephisto auf Geheiß des Helden die Idylle von Philemon und Baucis in Flammen aufgehen lässt.
Die peniblen Zollbeamten, die ordentliche Vorstadt, die ruhigen Straßen: München leuchtet nicht bei Levis Ankunft und zeigt sich als "friedliche Provinzstadt", eingehegt "in die langweilige Mittelmäßigkeit des Wohlstands". Die Passanten, "mit harmlosen Zügen, ohne das Feuer der Leidenschaft in den Augen", wirken "wie verwandelt, wie befreit", als er sie, "Frauen mittleren Alters", im Wirtshaus wiedersieht: "Sie essen nicht: Sie fressen, verleiben ein, verschlingen, schlucken, kauen, zermalmen, saugen auf, wie riesige Seidenraupen, völlig versunken in die reine Gefräßigkeit." George-Grosz-Fratzen.
Levi lässt sich treiben, besucht Bierkeller, einen Nachtclub, das Hofbräuhaus, lernt einen Landsmann, kleine Leute, Kriegsversehrte und Gestrandete kennen. Zufallsbegegnungen. Er trifft den Bildhauer Rainer P., mit dem er Ende der Zwanzigerjahre in Paris befreundet war, und fährt mit ihm nach Dachau, wo im Lager Vertriebene untergebracht sind, und weiter nach Augsburg, wo er die Fuggerhäuser besichtigt, und Ulm, um das Münster, eine dieser "gigantischen Maschinerien des Glaubens", zu bestaunen: "Oh Germanien, (. . .) unter deinen Kathedralen haben Dichter und Denker Großartiges, Missionen erdacht, ein neues Griechenland und neue Götter; bis hin zu den schauerlichsten Mythen des ersten wilden Barbarenstammes und zur abstrakten, unmenschlichen Größe des kollektiven Selbstmords."
Carlo Levi ist ein begnadeter Beobachter und versteht es, seine Blicke in Sprache zu übersetzen. Er sieht "ein verwundetes Land, ohne Autonomie, ein gekränktes Land, von sich selbst mehr als von anderen", zerrissen zwischen Gefühlsbetontheit und reiner Vernunft: "Nicht nur Stuttgart, sondern alle, oder so gut wie alle, alten kleinen Städte sind in Bezug auf das, was sie einmal waren, tot: zertrümmert von den Bomben, neu und unkenntlich wiederaufgebaut oder geschickt gefälscht." Abstecher führen in zwei Städte, die "diese gewaltsame Metamorphose nicht erleiden mussten", nach Schwäbisch Hall und nach Tübingen, wo Levi in der Abenddämmerung am Neckarufer einen "Augenblick des absoluten Wunders" erlebt.
Wenn ein Reisender in einem Wintermonat: En passant nimmt Levi wahr, dass das Trauma von Nationalsozialismus und Krieg noch nicht überwunden und der Großteil der Deutschen nicht fähig oder bereit ist, sich der Vergangenheit zu stellen und sich in die Gegenwart zu befreien. Wenn er diagnostiziert, dass die Zeit der Gräuel und der Entmachtung in einen "Bereich jenseits der Erinnerung verbannt" sei, spricht der ausgebildete Mediziner an, was acht Jahre später Alexander und Margarete Mitscherlich in "Die Unfähigkeit zu trauern" ausgeführt haben: "Diese Einöde geschäftiger, arbeitsamer, pedantischer, ausdauernder Menschen, die ihren Blick so starr auf den Gegenstand ihrer Arbeit oder auf das Geld, deren Gegenstück und Sinnbild, gerichtet haben, dass sie nicht zurückblicken, nicht nach rechts oder links sehen können, beinahe heroisch in ihrer Eingeschränktheit, in einem Land, das ohne Seele oder Wurzeln wiederaufgebaut wurde."
In Berlin, der Frontstadt des Kalten Krieges und letzten Station der Reise, wird Levi doch noch etwas warm mit Deutschland, "eingehüllt in ein vages Gefühl der Hoffnung und der Freundschaft". Die Gespräche werden intensiver, die Möglichkeit, zwischen den Welten, Kurfürstendamm und Unter den Linden, Dahlem und Pergamonmuseum, Schiller- und Brecht-Theater, hin- und herzufahren, fasziniert ihn. Jede der beiden Stadthälften sieht er "die Prinzipien, die sie regiert, ins Extrem" führen, sodass sie "in ihrer Gleichheit und Unterschiedlichkeit" einander spiegeln: "mitleiderregende Schwestern der inneren Unfreiheit". Doch die Gewohnheit, so stellt er am letzten Abend fest, hat die Wahrnehmung verändert: "Wie ein schwarz-weiß gemustertes Windrad einförmig grau erscheint, wenn es sich wirbelnd dreht, so ließ am Ende auch mein ständiges Hin und Her zwischen dem einen und dem anderen Berlin (. . .) beide Teile in einer einzigen Farbe erscheinen."
In Levis vorweihnachtlichem Reisebericht gerät das Land, "das in der Mitte Europas anstelle eines Herzens liegt", zum verkehrten Spiegelbild des Sehnsuchtslandes, zu dem deutsche Literaten Italien verklären, ihrer Schwärmereien und Mignon-Träumereien. "Deutschland", so Bernd Roeck im Nachwort, "ist für Levi Italiens Gegenland." Schwer getan hat sich auch Deutschland mit Carlo Levi: 65 Jahre nach dem Original erscheint das Buch auf Deutsch, und das schon zum zweiten Mal; in der ersten, weniger sorgfältigen Übersetzung mit dem Titel "Ich kam mit ein wenig Angst" fand es 1984 kaum Beachtung. Dabei rührt es an Wunden, die heute noch (oder wieder) brennen. ANDREAS ROSSMANN
Carlo Levi: "Die doppelte Nacht".
Nachwort von Bernd Roeck. Aus dem Italienischen von Martin Hallmannsecker. Verlag C.H. Beck, München 2024. 176 S., geb.
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