Inflation, Aufstände, Putschversuch und eine heiße, florierende Populärkultur. Das Jahr 1923 ist in seiner Ambivalenz sowohl das Ende der Nachkriegszeit, als auch der Auftakt zu den Goldenen Zwanzigerjahren der Weimarer Republik.
1923 ist das Jahr der Hyperinflation, in der Angestellte die Geldscheine eines Wochenlohns mit der Schubkarre transportierten. 1923 ist das Jahr der Besetzung des Ruhrgebiets und einer heftigen Streikwelle. 1923 ist das Jahr von blutig niedergeschlagenen kommunistischen und nationalsozialistischen Aufstandsversuchen. Und es ist das Jahr radikaler Gegensätze zwischen bitterer Armut einerseits und einer orchideenhaft blühenden Unterhaltungskultur.
1923 ist in seiner Ambivalenz das Ende der Nachkriegszeit und der Auftakt zu den Goldenen Zwanzigerjahren der Weimarer Republik.
Christian Bommarius setzt das Panorama eines Jahres der Extreme durch eine Vielzahl meisterhaft erzählter Geschichten und Porträts zusammen.
Besprechung vom 22.03.2022
Im Strudel der Geschichten
Christian Bommarius führt durch das Jahr 1923
Januar 1923. Ein Stück Brot kostet rund 250 Mark. Am Ende dieses turbulenten Jahres wird der Preis auf 399 Milliarden angewachsen sein. Die Ablösung der alten Mark durch die neue Rentenmark, eingeführt im November durch die Regierung unter dem Kanzler und späteren Außenminister Gustav Stresemann, war da schon in die Wege geleitet. Diese Maßnahme wird zwar später zur Stabilisierung der Währung in Deutschland beitragen, die vorausgegangene Vernichtung vieler Vermögen durch die Hyperinflation mit all ihren sozialen Verwerfungen aber nicht rückgängig machen können. Das Inflationstrauma von 1923 prägt die deutsche Währungspolitik bis heute.
Der Brotpreis ist der rote Faden, an dem der Journalist und Schriftsteller Christian Bommarius den Leser durch das von Aufruhr geprägte Jahr 1923 führt. Mehr oder weniger der einzige rote Faden, müsste man wohl anmerken, denn ansonsten wimmelt es in dem anschaulich erzählten und fundiert recherchierten Buch von scheinbar unzusammenhängenden Namen, Geschehnissen oder Eindrücken. Strukturiert werden sie lediglich durch die Einteilung in die jeweiligen Monate des Jahres.
Einige wenige Personen wie etwa der Chansonsänger Marcellus Schiffer oder der spätere NS-Propagandaminister Goebbels erhalten zwar regelmäßige Auftritte. Viele Protagonisten wie der Fußballtrainer Sepp Herberger oder die Schriftstellerin Vicki Baum tauchen dagegen nur ein einziges Mal auf, bevor sie wieder im Strudel der Geschichte(n) verschwinden. Damit gelingt Bommarius einerseits ein kaleidoskopartiger Blick auf das Jahr 1923. Andererseits kann die Masse von Namen und Ereignissen beim Lesen auch zu einer gewissen Orientierungslosigkeit führen.
Mehr begleitende Informationen wären da hilfreich gewesen. Der knappe Anhang führt zwar Kurzbiographien aller auftauchenden Figuren sowie ein Anmerkungsverzeichnis und ein Personenregister auf; dafür fehlen weitere Orientierungshilfen wie eine chronologische Übersicht der erzählten Ereignisse. Am dringlichsten vermisst wird eine Einführung oder ein Nachwort mit einer Hinführung zur historischen Situation und zur Konzeption der Stoffauswahl, außerdem ein Quellen- und Literaturverzeichnis.
Diese Mängel mindern die erzählerische Leistung von Christian Bommarius in keiner Weise. Über die Flucht des rechtsextremen Freikorpsführers Gerhard Roßbach liest man beispielsweise: "Am 15. Oktober beendet der Staatsgerichtshof in Leipzig Roßbachs Haft mangels Flucht- und Verdunklungsgefahr, eine Einschätzung, der Roßbach unmittelbar nach seiner Entlassung ebenso nachdrücklich wie überzeugend widerspricht: Er flüchtet." Diese Episode ist nur eine von vielen, mit denen Bommarius illustriert, wie rechtsextreme Aktivisten von einer bestenfalls nachlässigen, schlimmstenfalls komplizenhaften Behandlung durch den Weimarer Staat profitierten.
Eindrücklich schildert der Autor auch den alltäglichen Antisemitismus und Chauvinismus, der von Schreibern reaktionärer oder opportunistischer Medienimperien wie denen Alfred Hugenbergs oder Hugo Stinnes' noch befeuert wurde. Erwähnt sei hier der von Bommarius immer wieder aufgegriffene rechte Agitator Adolf Stein, ein Protegé Hugenbergs und einer der einflussreichsten Publizisten der Weimarer Republik. Er bezeichnete einmal das Tier als "Übergangsstufe vom Franzosen zum Menschen" oder diffamierte Schauspielerin Lucie Mannheim als "hässliche Jüdin" , die aber dennoch spielen könne. Wie schnell derartige Worte sich mit Taten verknüpften, zeigen die blutigen Ruhrkämpfe gegen die französische Besatzung oder die Judenpogrome im Berliner Scheunenviertel vom November 1923.
In einem Buch über das Jahr, das heute auch als Startpunkt der Goldenen Zwanziger gesehen wird, dürfen Geschichten aus dem Kulturleben nicht fehlen. Bommarius entschließt sich auch hier für eine breite Palette an auftretenden Personen und widmet sich hauptsächlich Anekdoten aus deren Privatleben. So geht es etwa um Szenen der Beziehung Kafkas zu seiner letzten Liebe Dora Diamant oder den einen oder anderen Skandal aus dem Leben der Tänzerin Anita Berber.
Der unscheinbare Bürger des Jahres 1923 findet in dieses Buch hauptsächlich über Schilderungen der durch die Inflation ausgelösten extremen Armut Eingang, mit all ihren fatalen Konsequenzen. Das reicht von der Vergiftung ganzer Familien durch selbst gesammelte Pilze - in Ermangelung anderer erschwinglicher Lebensmittel - bis hin zur durch die allgemeine Not alltäglich gewordenen Kriminalität. Das Eingehen auf diese Einzelschicksale fügt sich im Ganzen zu einer sozialgeschichtlichen Analyse, die die daraus resultierende Anfälligkeit für Gewalt und Extremismus erhellt. PHILIP SCHÄFER
Christian Bommarius:
"Im Rausch des Aufruhrs". Deutschland 1923.
Dtv, München 2022. 352 S., geb.
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