Besprechung vom 06.02.2020
Vom Gustl und Gigerl zum Yogi
Gut sichtbar und lesbar: Christoph Poschenrieders "Unsichtbarer Roman" über Gustav Meyrink
Wie Pat Barker hat auch Christoph Poschenrieder eine Trilogie des Ersten Weltkriegs geschrieben. Aber im Gegensatz zu der englischen Schriftstellerin erzählt er nicht chronologisch-realistisch, sondern eher ironisch augenzwinkernd, mit einem dokumentarischen Gestus, der die Grenzen zwischen Fakten und Fiktion verschwimmen lässt. In seinem etwas überambitionierten Roman "Der Spiegelkasten" ließ Poschenrieder die Phantomschmerzen und echten Neurosen der Kriegszitterer in den Gerätschaften und magischen Effekten der digitalen Moderne aufscheinen. In "Das Sandkorn" fiel ein homosexueller Kunsthistoriker aus seiner Rolle als Indiana Jones deutschnationaler Geschichtsklitterung und begann in den Straßen Berlins buchstäblich Sand ins Getriebe der Kriegsmaschinerie zu streuen. Im dritten Band seiner Weltkriegstrilogie porträtiert Poschenrieder nun wieder einen Künstler, der die wilhelminische Kriegs- und Lügenindustrie von innen her zersetzt: Gustav Meyrink (1868 bis 1932), Autor des "Golem" und als Mitarbeiter des "Simplicissmus" ein scharfer Kritiker des deutschen Spießertums.
Historisch verbürgt ist, dass Meyrink 1917 im Auftrag der Propagandaabteilung des Auswärtigen Amts einen Roman schreiben sollte, der die damals schon leidige Kriegsschuldfrage ein für alle Mal beantworten würde: Verantwortlich für alles war, natürlich, wieder mal das internationale Freimaurertum. Wie das Außenministerium ausgerechnet auf den "Golem"-Autor verfiel, lässt sich heute nur noch schwer nachvollziehen. Meyrink war berühmt und berüchtigt für seine Exzentrik, seine Freigeisterei und seine Satiren auf Vaterlandsaffen, Pastorenweibsen und "Teutobolde"; die Rechten beschimpften ihn als dekadenten "völkischen Schädling" und mutmaßlichen Juden.
In Berlin war man aber offenbar geneigt, über Meyrinks zweifelhaften Ruf hinwegzusehen: Ein linker Autor konnte die Glaubwürdigkeit rechter Verschwörungstheorien nur fördern, und "wenn es außerdem unterhaltsam wäre, schadet es auch nichts". "Wir machen hier Propaganda", klärt bei Poschenrieder der zuständige Legationsrat auf: "Das ist nicht die feine Dichtkunst. Da muss sich nichts reimen. Es geht nicht um Stil. Es geht um Wirkung." Meyrink selber reagiert anfangs irritiert: Warum gerade er, warum nicht Frenssen oder Ganghofer? Und warum gerade Freimaurer? Warum nicht die Juden als übliche Schuldige, Friseure oder Mohikaner, wie Erich Mühsam spottet?
Andererseits, warum nicht? Meyrink erwies sich in seinem Leben mehrfach als außerordentlich wandlungsfähig. Geboren als Gustav Meyer, Spross einer Affäre zwischen einer Schauspielerin und einem württembergischen Minister, war er Bankier und verurteilter Betrüger, Okkultist und Aufklärer, Gigerl und Ruderer, Yogi, Spiritist und leidenschaftlicher Automobilist. Der Yoga, wie das damals noch hieß, heilt ihn von seinem Rückenleiden und wird zu seiner Religion. Mit dem Schreiben begann er erst spät, mit Mitte dreißig, und nur des Geldes wegen. Andererseits sagt seine Frau im Roman: "Der Gustl ist der Gustl so richtig nur, wenn der Gustl schreibt."
1917 ist der Ruhm des "Golem"-Gustl allerdings schon verblasst. Die Villa am Starnberger See, Segelboot und Automobil wollen bezahlt sein, und so nimmt Meyrink das unsittliche Angebot schließlich an. Sein Führungsoffizier ist übrigens Bernhard von Hahn, nicht Kurt Hahn, der im selben Amt arbeitet. Poschenrieder spielt die Namensgleichheit zwischen Legationsrat und Reformpädagoge bis hinein in Archivrecherchen und Briefwechsel mit seiner Lektorin durch. Aber ob Hahn, Huhn oder Ei: Als Ghostwriter eines zu allem fähigen Literaten läuft auch Poschenrieder (der sogar erst mit Mitte vierzig zu schreiben begann) zu großer Form auf.
Der Freimaurer-Roman wird darum nicht schneller fertig. Meyrink leidet zum ersten Mal an Schreibblockade und moralischer Prokrastination: Ihn ekelt vor der Vorstellung, seinen leidlich guten Ruf für Fake News und Lügenpropaganda zu verkaufen. So überhört er das lauter werdende Drängen aus Berlin und flüchtet sich lieber nach München, wo sich gerade Revolution und Räterepublik zusammenbrauen. Meyrink kennt die Helden der Bierhallen und Kaffeehäuser: Mit Erich Mühsam ist er befreundet, Kurt Eisner genießt seinen kollegialen Respekt. Als sich die Auftraggeber des Freimaurer-Machwerks nicht mehr länger hinhalten lassen, liefert er einen Roman ab, der, ohne Farbbänder rasch auf weißes Papier getippt, buchstäblich unlesbar wird. Was aber bleibt, stiften die Dichter, und was sichtbar oder jedenfalls gut lesbar ist, verdanken wir Poschenrieder. Sein erster, doppeldeutiger Satz "Es klopft" - mitten in eine spiritistische Sitzung in Meyrinks Villa platzt der Bote aus Berlin - ist auch der Anfang und das Ende von Meyrinks Auftragsroman.
Meyrink, der Hobby-Alchemist, Banker und Ungustl, macht aus Dreck Gold und aus Propaganda Literatur, und sein Doppelgänger Poschenrieder macht es ihm nach. "Der unsichtbare Roman" hat, wie jeder andere Roman auch, Anfang, Mitte und Ende, Vor- und Nachwort; er ist ein feines Lebensbild des Schriftstellers Meyrink, aber eigentlich eher eine Sammlung von Porträts, Anekdoten und ironischen Betrachtungen als ein richtiger Roman. Poschenrieder beschreibt das "innere Schauen" im Schreibprozess und reflektiert sich in Meyrink als gehobener Unterhaltungsautor mit politischer Verantwortung; derart hat die launig-luftige postmoderne Scharade immer auch einen ernsten doppelten Boden. Meyrink war 1918 als Schriftsteller erledigt; Spätwerke wie "An der Grenze des Jenseits" oder "Der Engel vom westlichen Fenster" verkauften sich nur noch schleppend. 1928 verkaufte er seine Villa und trat zum Buddhismus über. Seinen Freimaurer-Roman hat übrigens ein gewisser Friedrich Wichtl zu Ende geschrieben: Dieser Dr. Wichtl, Geigenlehrer und deutschnationaler Politiker, veröffentlichte 1919 das vielgelesene Schauermärchen "Weltfreimaurerei - Weltrevolution - Weltrepublik".
MARTIN HALTER
Christoph Poschenrieder: "Der unsichtbare Roman". Roman.
Diogenes Verlag,
Zürich 2019. 272 S.,
geb.
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