Afghanistan hat 43 Millionen Einwohner und ist knapp doppelt so groß wie Deutschland. Es ist ein archaisches Land. Drei Viertel der Fläche bestehen aus Gebirgsregionen, die nur schwer zugänglich sind. Nur 3 % davon sind bewaldet. Bis 1973 war Afghanistan ein konstitutionelles Königreich, das unter Mohammed Zahir Schah, der 1973 gestürzt wurde, eine westliche Annäherung und Modernisierung suchte. Bis heute ist der Anteil an Analphabeten mit mehr als 50 %, nicht nur unter Frauen, sehr hoch. Seit guten 40 Jahren ist Krieg in Afghanistan mit nur kurzen Unterbrechungen.
Christoph Reuter berichtet seit 20 Jahren aus den Krisengebieten in der arabischen Welt und Afghanistan. Er hat einige Jahre als Reporter in Kabul gelebt und ist ein ausgewiesener Kenner dieses Landes. 2021 ist er kurz nach dem Sieg der Taliban nach Afghanistan zurückgekehrt und hat mehrere Monate das Land bereist. Dabei wagte er sich in Regionen, die er Jahre zuvor schon einmal besucht hatte, die aber zwischenzeitlich aus Gründen der Sicherheit für lange Jahre absolut unzugänglich waren. Er nutzte dieses Zeitfenster zwischen dem Abzug der NATO-Truppen und der Etablierung neuer Strukturen durch die Taliban, in dem das Land überall zugänglich war, um sich ein Bild von den Zuständen in den verschiedenen Regionen zu machen. Wie geht es den Menschen dort, wie leben sie, wie ist ihre Haltung? Wie ist die Sicherheitslage? Inzwischen ist das Zeitfenster geschlossen, heute wäre sein Roadtrip nicht mehr möglich.
Aus den Erkenntnissen dieses Roadtrips ist ein höchst spannendes, informatives, in Teilen auch witziges und abenteuerliches Buch entstanden, das uns die Geschichte dieses wilden, aber auch geheimnisvollen und faszinierendes Landes, das Lebensgefühl seiner Bewohner und viele Fakten näher bringt.
Christoph Reuter dröselt die historisch-politischen Zusammenhänge für Laien verständlich auf und beleuchtet die vielen Facetten dieses Vielvölkerstaats. In Afghanistan leben viele Ethnien, die ihre eigenen Interessen verfolgen, die afghanische Nation gibt es nicht, vielmehr ist das Land in sich zerrissen.
Im Frühjahr 2002 gab es keine US-Feide mehr in Afghanistan. Die Taliban waren besiegt und spielten zu diesem Zeitpunkt keine Rolle mehr. Von nun an hat Amerika gegen verfeindete Gruppen gekämpft, die jedoch keine Terroristen waren, sich aber gegenseitig als Taliban charkterisierten. Jede Seite hat für sich die ausländischen Streitkräfte für ihre jeweiligen Ziele missbraucht. Diese verschiedenen Warlords hatten schnell herausgefunden, dass man die US-Streitmächte zwar nicht besiegen, wohl aber für sich nutzen konnte.
Das Wiedererstarken der Taliban erfolgte sehr langsam und kleinschrittig, doch nach und nach wurden immer größere Areale des Landes unzugänglich, und bestimmte Ziele konnten aus Sicherheitsgründen nur noch aus der Luft erreicht werden.
Die Hauptstadt Kabul ist nicht repräsentativ für Afghanistan. In Kabul lebten eine Menge Ausländer, und sie lebten dort gut. Sie arbeiteten überwiegend in Projekten von NGOs, aus dem Westen finanziert, und wenn ein Projekt beendet war, kehrten sie für einige Wochen nach Hause zurück und kamen für ein anderes wieder. Auf diese Weise floss eine Menge ausländisches Geld nach Afghanistan, das den Anschein einer florierenden Wirtschaft und Infrastruktur machte, das Land aber nicht aufbaute, sondern in starke Abhängikeit vom Westen brachte. Was denken die Afghanen selber? Zum Zeitpunkt, als Christoph Reuter das Land bereiste und mit vielen Bewohnern sprach, überwog die Freude und Erleichterung darüber, dass nach 40 Jahren endlich kein Krieg mehr ist. Das wirkte sich u.a. so aus, dass plötzlich mehr Kinder, auch Mädchen, zur Schule gingen als zuvor, weil der Schulweg jetzt sicher war. Die Einschränkungen für Mächen gab es in dem Moment noch nicht. Allerdings liegen diese Einschränkungen nicht ausschließlich an den Restriktionen durch die Taliban. Viele Familien, vor allem im ländlichen Bereich, finden es vollkommen in Ordnung und natürlich, dass Frauen und Mächen eine untergeordnete, minderwertige und dienende Rolle einnehmen. Aber nicht alle Taliban halten das für richtig, denn sie erkennen durchaus den Nachteil für alle in der Zukunft, wenn Frauen beruflich und gesellschaftlich nicht mehr beteiligt sein werden, weil sie nicht ausgebildet werden durften. Ein großes Problem und eine Gefahr besteht darin, dass die Taliban sich untereinander nicht einig sind. Das birgt große Gefahren für neue Konflike, die das Land alleine wird lösen müssen, denn eine erneute Intervention von außen wird in absehbarer Zukunft nicht geben.
Vielen Afghanen, vor allem auf dem Land, war nicht klar, dass die Ausländer, deren Anwesenheit sie verflucht haben, drei Viertel ihres Staates finanziert haben, eine Alimentation, die nun wegfällt. Neben vielen anderen Mängeln wird die afghanische Landwirtschaft nicht in der Lage sein, die 43 Millionen Menschen zu ernähren. In vielerlei Hinsicht geht das Land einer ungewissen Zukunft entgegen, und man kann nur hoffen, dass sein Schicksal auch hinsichtlich der vielen Krisenherde in der Welt nicht in Vergessenheit gerät.
Im Mittelteil des Buches gibt es eine Auswahl an Fotos von Land und Leuten, die auch optisch einen kleinen Eindruck vermitteln. Vorne und hinten im Buch ist jeweils eine farbige Landkarte des Landes, die die Provinzen und großen Städte sowie Reuters Reiserouten sehr detailliert und übersichtlich darstellt. Mir hat dieses Buch sehr spannende, lehrreiche und unterhaltsame Lesestunden beschert. Ich empfehle es wärmstens allen Leser*innen, die sich für politische, historische und gesellschaftliche Zusammenhänge und fremde Kulturen interessieren. Es ist sehr unterhaltsam und kurzweilig geschrieben, so dass man man auch behält, was man liest. Viele Erörterungen sind mit kleinen Geschichten verbunden, die der Autor selbst mit seinen Begleitern erlebt hat, oder die den Personen, über die er schreibt, widerfahren sind. Ich hatte beim Lesen oft das Gefühl, selbst ein Teil dieser Reisegruppe zu sein.