Besprechung vom 05.01.2019
Der Raum der Zukunft muss eröffnet werden
Preußische Beispiele: Christopher Clark über den Zusammenhang von politischem Handeln und Geschichtsbildern
Auf den meisten Seiten dieses Buches geht es um vergangene Zeitvorstellungen und deren Bedeutung für das Handeln politischer Akteure, preußischer zumal. Erst auf den letzten Seiten kommt Christopher Clark mit einem kühnen Sprung in unserer Gegenwart an. Spätestens dann wird klar, dass es ihm von Anfang an auch um die Gegenwart ging, um den Verlust des Zukunftsvertrauens, das die westlichen Gesellschaften über Jahrzehnte hinweg geprägt und ihre politische Agenda bestimmt hat. Es ist der Zusammenhang von Zeitvorstellung und politischem Handlungsraum, der Clark interessiert.
Seine Ausgangshypothese lautet, dass in den jeweiligen Vorstellungen von Zeitlichkeit - linear fortschreitend, zyklisch rekursiv oder in stetem Niedergang begriffen - seinen Niederschlag findet, welche Vorstellungen von den politischen Handlungsoptionen die Akteure einer Epoche zu haben glauben. Man kann Clarks neues Buch also unter mindestens zwei Leitinteressen lesen: einem wesentlich historischen, das sich mit herausragenden Gestalten der preußisch-deutschen Geschichte beschäftigt und das dabei die im Verlauf der letzten Jahrzehnte in der Geschichtswissenschaft geführten Forschungsdebatten an einem bestimmten, räumlich begrenzten Zeitabschnitt testet, ebenso aber auch unter einem wesentlich politischen Interesse, das danach fragt, wie die Vorstellungen von Zeit und Geschichtlichkeit politische Handlungsräume schaffen, erweitern oder verengen und wie auf diese Weise regelrechte Korridore in die Zukunft entstehen, die anschließend mehr oder weniger zielstrebig durchschritten werden.
Welches Interesse bei der Lektüre aber auch überwiegt - man kommt in beiden Fällen auf seine Kosten. Christopher Clark ist ein glänzender Erzähler, der auch trockene Materie anregend aufzubereiten versteht und in die Analyse eingestreute Episoden so plaziert, dass sie wie ein Scheinwerfer die Erzählstränge ausleuchten. Und zugleich ist er ein versierter Analytiker der Selbstdarstellung von Politikern, der deren Schriften nach beiläufig untergebrachten Erklärungen dafür absucht, warum der Betreffende so handeln musste, wie er handelte und dabei durch Geschick und Entschlossenheit das Bestmögliche erreichte. Die Vorstellung von Zeitläuften und der eigenen Positionierung in ihnen ist eines der Motive dieser Rechtfertigungen.
Dass Clark sich dabei auf die preußisch-deutsche Geschichte von der Mitte des siebzehnten bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts als Untersuchungszeitraum konzentriert hat, liegt angesichts seiner Forschungen auf der Hand. Unter den Historikern seiner Generation dürfte sich kaum einer finden, der mit der Geschichte Preußens besser vertraut ist als er. Die Thematisierung des Nationalsozialismus geht über sein bisher gepflegtes Forschungsgebiet hinaus. Sie war naheliegend, weil sich hier ein Geschichtsbild findet, das im radikalen Gegensatz zu denen des Großen Kurfürsten, des großen Königs, Friedrichs II., und des Reichskanzlers Otto von Bismarck steht. Singulär war es aber im zwanzigsten Jahrhundert keineswegs, auch wenn es sich von den Temporalitätsvorstellungen der beiden anderen totalitären Systeme, dem italienischen Faschismus und dem Sowjetkommunismus, deutlich unterschied.
Der Faschismus mussolinischer Prägung war an der Wiederherstellung römischer Größe orientiert und feierte die Machtmenschen der Renaissance als Voraussetzung zur Erreichung dieses Ziels; er war also vergangenheitsfixiert. Der Sowjetkommunismus dagegen sah Gegenwart wie Vergangenheit als zügig zu durchschreitende Durchgangsetappen auf dem Weg in die Zukunft an, war also radikal zukunftsorientiert. Von beidem unterschied sich die Zeitlichkeitsvorstellung des Nationalsozialismus, in der das "ewige" Brauchtum des Volkes, die germanischen Mythen, die den Wechsel der Jahreszeiten mit dem Wechsel von Werden und Vergehen verbanden, und die Vorstellungen des Raumes, denen gegenüber die Zeit unmaßgeblich war, ausschlaggebend waren.
In mancher Hinsicht mag die NS-Herrschaft von bemerkenswerter Modernität gewesen sein; in ihren Zeitvorstellungen, etwa der vom "Tausendjährigen Reich", spielte eine dem technischen Fortschritt geschuldete Modernität jedoch keinerlei Rolle, sondern die Imaginationen der Ewigkeit waren gegen die Dichotomie von Vergangenheit und Zukunft gerichtet: Beide sollten einander gleich sein. Die NS-Ideologie war darin ein schroffer Bruch mit den staatszentrierten Machtvorstellungen der preußischen Geschichte - auch wenn Hitler diese immer wieder für sich propagandistisch in Anspruch nahm und sich zuletzt an das "Mirakel des Hauses Brandenburg" als letzten verbliebenen Hoffnungsschimmer klammerte.
Clark zeigt, wie die drei großen Preußen ihre eigene Zeit in Absetzung gegen die Konflikte der jüngeren Vergangenheit entwarfen, diese als zu bewältigende Herausforderung begriffen, sie zugleich als überwundene Vergangenheit beschworen und darüber ein eminent politisches Geschichtsbild entwarfen. Geschichte und Zeitlichkeit war hier immer auch ein Panorama politischer Risiken wie Optionen. Dagegen ist im NS-Geschichtsbild die Macht unsichtbar. Die Zeit geht ihren immer gleichen Gang. Man könnte auch sagen, Zeit wird naturalisiert, um sie dem Zugriff der Herrschaftsunterworfenen zu entziehen.
Christopher Clark hat ein Buch über vier geschichtliche Etappen des Denkens von Zeitlichkeit und Geschichte geschrieben. Aber er hat dies aus einem unübersehbaren Interesse an der eigenen Gegenwart getan, und das keineswegs in gelassener Sorglosigkeit, sondern voll Angespanntheit angesichts des Brexits und seiner Folgen. Sein Buch spiegelt die Zeitvorstellungen unserer Gegenwart in denen der Geschichte - und es verdient unser Interesse.
HERFRIED MÜNKLER.
Christopher Clark: "Von Zeit und Macht". Herrschaft und Geschichtsbild vom Großen Kurfürsten bis zu den Nationalsozialisten.
Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2018. 313 S., Abb., geb.
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