Besprechung vom 07.03.2020
Wir können keinen mehr verlieren
Bekannte Sagen im modernen Gefühlsgewand: Mit "Haus der Namen"schreibt Colm Tóibín antike Mythen fort.
Von Simon Strauß
Ein Hoffnungsschimmer inmitten der düstersten Katastrophe: Orest, der Muttermörder und Waisensohn, liegt im Bett auf seinem Zimmer, draußen auf dem Korridor hört man die Wächter flüstern, die Palastmauern sind kalt, von draußen pfeift der Wind durch die Ritzen. Ianthe, seine junge schwangere Frau, sitzt auf der Bettkante und lässt seine Hand auf ihrem Bauch ängstlich nach dem Kopf des Kindes tasten. Doch in seine Augen schießt Furcht und mischt sich mit Abscheu, als sie ihm, der sich als werdender Vater wähnt, erzählt, wie fünf Männer sie vor den Augen ihrer Familie vergewaltigt haben, wie sie ihr die unsagbarste Gewalt antaten und dann all ihren Liebsten die Kehle durchschnitten, dabei grölten und höhnten und sie selbst am Schluss geschändet auf den blutigen Leichenberg warfen.
Die Frucht des Lebens, die sie in sich trägt, ist ihr geschenkt von abartigen Mördern. Sie spricht schnell, voller Ekel vor den eigenen Worten. Und Orest? Der Held, dem Ehre und Ansehen angeblich das Wichtigste sind? Er drückt sie an sich und schweigt. Hier, in dieser unwahrscheinlichen Traumsequenz, beruhigt er die Gefährtin, die sich nicht vorstellen kann, dass er das Kind wird haben und sein eigen nennen wollen. "Aber das Kind ist in dir, nicht in ihnen", sagt er "Es ist in dir gewachsen, während ich dich hielt. Es ist in der Nacht gewachsen, während du hier bei mir warst." Wenig später, ruft er den Tränen nahe: "Wir können keinen mehr verlieren. Ich habe meine Schwester verloren, ich habe meinen Vater verloren. Es hat genug Tod gegeben." Diesem Orest gelingt das Unmögliche: Er stellt sich gegen den Fluch der Götter, widerspricht dem Schicksal, das ihn und seine Familie zum endlosen Morden verdammt und ruft die Liebe als neuen Wegweiser auf. Er beendet den Mythos. Und mit ihm den Glauben an das unveränderliche Verhängnis. Den Krieg. Die Rache. Orest stellt sich unter den Banner der Vergebung und nimmt das unschuldige Kind an. Während draußen der Morgen anbricht und mit einem vollen, gesättigten Licht ein neuer Tag beginnt: "gleichgültig, wer kam und ging oder wer geboren oder was vergessen oder erinnert wurde".
So endet Colm Tóibíns "Orestie": Mit der Hoffnung, dass sich der Mensch auf Erden doch durchsetzt gegen den unmenschlichen Willen der Götter oben auf dem Himmelsberg. Die Art, wie dieser Roman geschrieben ist, setzt sich von Beginn an souverän über die Frage hinweg, was an dem Geschilderten nun "wahr" sei und was nicht. Was soll die Frage bei einem Mythos, der immer nur dadurch lebte, dass er von unterschiedlichen Stimmen neu erzählt wurde?
In diese gewissermaßen vorschriftliche Tradition des Erzählens reiht Tóibín sich 2017 ein mit seinem Buch "Haus der Namen", das nun auf Deutsch vorliegt. In der Danksagung am Schluss bekennt er, dass sein Text ein "Werk der Fantasie" sei und viele Figuren - so wie Ianthe - in den überlieferten Versionen der Orestie-Geschichte nicht vorkommen. Allerdings sind die Namen, nach denen er seine Kapitel gliedert - Klytaimnestra, Elektra, Orestes -, die altbekannten Sagentypen, von denen man schon oft gehört, sie häufig auf der Bühne gesehen hat. Und doch ist man ihnen noch nie so nahe gekommen wie hier. Nacheinander zeichnet er sorgfältig das Profil ihrer Charaktere, schenkt ihnen Gedanken und Gefühle, lässt sie zu Menschen werden, die sich aus Angst, Hochmut und Hoffnung zusammensetzen.
Die alte Mythos-Geschichte rund um den Kriegervater Agamemnon, der seine eigene Tochter Iphigenie opfert, um die Götter zu besänftigen, die irrgewordene Mutter Klytaimnestra, die jenen bei seiner Heimkehr kaltblütig hinwegmeuchelt, die überlebende Schwester Elektra, die jeden Tag am Grab ihres Vaters weint, und den verlorengeglaubten Sohn Orestes, der in Gefangenschaft gerät und sich befreien kann, um schließlich seiner eigenen Mutter das Messer in die Brust zu rammen, wird hier sachlich, fast nüchtern erzählt als handelte es sich um eine "True Crime Story". Der Geruch des Todes hängt über allem, aber das verleitet den Autor nicht dazu, monumentalisch zu schreiben. Es ist ein klarer, unprätentiöser Ton, mit dem hier das Grauen geschildert und die prototypische Mythosgeschichte ausgekleidet wird.
Was von Beginn an auffällt, ist die dezidiert götterkritische Haltung des Erzählers. Die Götter stehen für Lug und Trug, sind kalte, unbeteiligte Achselzucker, deren Macht über die Menschen nur zu Schaden führt. "Es gibt keinen unter den Göttern, an den ich mich wenden würde. Ich lebe allein im schaudernden, einsamen Wissen darum, dass die Zeit der Götter vorbei ist", flüstert Klytaimnestra hier, und selbst die ängstliche Elektra ist sich sicher, dass sie in einer Zeit lebt, "in der die Götter verblassen. Ihre Macht ist im Schwinden. Bald wird die Welt eine andere sein."
Vielleicht ist das die einzige wirkliche Schwäche dieses spannungsvoll geschriebenen, fast wie ein Drehbuch angelegten Romans, dass er seine Protagonisten allzu selbstbewusst zu kritisch-modernen Geistern stilisiert. Sie leben in dem falschen Bewusstsein, dass alles besser würde, wenn man die Götter tötet. Und geben sich dadurch eben nicht mehr als mythische, sondern nur noch als psychologische Größen zu erkennen. Mit dieser Schwachstelle korrespondiert auch das Kippen ins Umgangssprachliche, etwa wenn "zwei Wärter richtig Ärger bekommen" sollen oder als Aufgabe festgelegt wird, jemanden "fehlzuinformieren". Wo keine Götter sind, walten Gespenster: So auch hier - die ermordete Mutter schleicht nachts über den Gang und jagt den Überlebenden Angst und Schrecken ein. Und doch: Tóibíns Buch ist ein gewagt-gelungener Versuch, an der alten Mythenkette weiter zu schmieden. Ohne falschen Voyeurismus, ohne künstliche Archaik schreibt er den antiken Sagengestalten zu, was sie gefühlt hätten, wenn sie modern gewesen wären.
Colm Tóibín: "Haus der Namen". Roman.
Aus dem Englischen von Giovanni und Ditte Bandini. Hanser Verlag, München 2020. 287 S., geb.
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