Besprechung vom 09.06.2019
Du sollst nicht lieben!
Ein Junge wollte aufs College, es kam aber anders, er in eine Besserungsanstalt, in der Kinder wie Vieh behandelt wurden. Was mit ihm dort geschah, erzählt Colson Whitehead in "Die Nickel Boys", seinem neuen Roman
Es kommt mit der Zeit nicht immer alles ans Licht. Aber wenn es sich um Leichen handelt, dann doch meistens. Wie ließe sich ein geheimer Friedhof auf Dauer geheim halten, wenn er dort liegt, wo ein Büroviertel entstehen soll? In Florida, am Rand einer Müllkippe auf einem verwilderten Grundstück, auf dem einmal eine Besserungsanstalt für Jugendliche stand, tauchen bei solch einer Gelegenheit lukrativer Flächenentwicklung Reste von Körpern auf. Der Boden wird ausgehoben, und plötzlich liegt etwas zunächst unbestimmt Organisches auf der Baggerschaufel. Das ist in jeder Hinsicht unerfreulich, macht dem Staatsanwalt Ärger, der Hinweisen auf tödliche Misshandlungen in jener Anstalt nur sehr nachlässig nachging und dann die Ermittlungen einstellte, und der Immobilienfirma auch, weil sie die Arbeiten am Bauprojekt fürs Erste abbrechen muss. Archäologiestudentinnen der nahen Universität durchsieben die Erde und legen nebeneinander auf ihre Tabletts, was sie finden, "Knochen, Gürtelschnallen und Limonadenflaschen, eine rätselhafte Ausstellung".
"Sogar als Tote machten die Jungs noch Ärger." Mit diesem Satz und der beschriebenen Szene beginnt Colson Whiteheads neuer Roman "Die Nickel Boys". Aber was Whitehead nach diesem Prolog erzählt, ist nicht die Geschichte des Grundstücks oder der Archäologiestudentinnen und nicht die Geschichte der Besserungsanstalt, die in Zeiten der Segregation nach Hautfarbe ihrerseits Schwarze und Weiße streng getrennt hielt. Was nicht bedeutet, dass es die Weißen sehr viel besser dort hatten. Aber ein bisschen schon. Whitehead erzählt vielmehr von dem Jungen Elwood Curtis. Woher er kam. Wovon er träumte, was er las und wer er sein wollte. Wie er einer der "Nickel Boys" wurde. Was in der Anstalt mit ihm geschah. Und was aus ihm wurde, als es vorbei war. Und er erzählt von Turner, einem zweiten Jungen. Turner wird im "Nickel" Elwoods Freund, obwohl er dessen Vorstellungen von moralischer Größe und der reinen Liebe für ihre gemeinsamen Unterdrücker, wie Martin Luther King sie predigte und wie auch Elwood sie eine Weile lang für möglich und erstrebenswert hielt, als unbrauchbar erkennt. Die Lehren der Welt sehen anders aus: "Du sollst nicht lieben, denn man wird dich im Stich lassen; du sollst nicht vertrauen, denn man wird dich verraten; du sollst nicht aufbegehren, denn man wird dich Mores lehren."
Die Geschichte geht zur Zeit der Bürgerrechtsbewegung in den frühen sechziger Jahren los, der Ort ist Südflorida. Frenchtown in Tallahassee, um genau zu sein, eine afroamerikanische Gemeinde. Dort lebt Elwood, nachdem seine Eltern sich nach Westen verdrückt haben, mit seiner Großmutter, die sehr zufrieden damit ist, dass er gern lernt, sich ungern prügelt und von den weißen Arbeitgebern der Stadt wegen seines Fleißes, und weil er ehrlich ist, gern beschäftigt wird ("eine Zierde für seine Rasse"). Erst im Hotel Richmond. Dann im Tabakladen von Mr. Marconi, einem Geschäft in unmittelbarer Nähe des Militärstützpunkts. Schwarze Soldaten "tobten sich das ganze Wochenende in Frenchtown aus und sackten dann in einen Zug, der sie in den Krieg schaffte". Mr. Marconi verstand sich auf die "Ökonomie der Rassentrennung" und konnte mit entsprechenden Tabaksorten und Kondomen "richtig Geld scheffeln". Elwoods Großmutter zieht die Hälfte von Elwoods Lohn für Kost und Logis und zukünftige Collegegebühren ein. Denn ins College wird Elwood gehen, das ist ein Traum und eine Möglichkeit. Die Großmutter schenkt ihm an Weihnachten 1962 die Schallplatte "Martin Luther King At Zion Hill". So bekommt Elwood Ideen, die ihm später nicht gut tun.
Denn statt ins College kommt Elwood in die "Nickel Academy". Er will zur Aufnahme ins College trampen, gerät aber an einen Autodieb. Und während von den Straßen und aus dem Radio die Parolen der Bürgerrechtsbewegung ("Was wollen wir? Freiheit!") das Land überziehen, verfahren Polizei und Behörden, wie es bis heute üblich ist: Schwarz ist verdächtig - besser wegsperren.
Was für eine Einrichtung die "Nickel Academy" war, davon gibt schon der Name des Speisesaals einen Eindruck. "Futterkrippe" wird er genannt, als stünden die Jungen, die sich hier bessern und eine Ausbildung erhalten sollen, auf einer Stufe mit dem Vieh. Wie sollte jemand an einem Gefühl der Würde festhalten, der hier so notdürftig ernährt oder, wenn "Eiscreme" ansteht, zu Matsch geschlagen wird? Elwood, der zu Hause immer wieder seine Schallplatte mit der Rede von Martin Luther King vor den Schülern der Highschool in Washington D.C. gehört hatte mit der Aufforderung, sein Leben der Menschlichkeit zu widmen, hält lange daran fest. Aber sein Glaube an Dr. Kings Lehren wird brüchig, und die Wut von Colson Whitehead, so scheint es, immer größer.
Vielleicht könnte für die nächste Auflage die Übersetzung von Henning Ahrens nachgebessert werden, die streckenweise klingt, als sei sie unter großem Zeitdruck entstanden. So bleibt man immer wieder in diesem so fesselnden wie bedrückenden Buch an hölzernen (oder auch schlichtweg falschen) Formulierungen hängen. Da ist vom "Kreischen trockener Hosenschlitze" die Rede (obwohl doch nicht einmal trockene Reißverschlüsse kreischen) oder von Buchsbaumhecken, "die sich aus der roten Erde krallten", Soldaten verlassen die "Armeebasis", der "Wutbürger" hat bereits in der unmittelbaren Nachkriegszeit im amerikanischen Süden einen Auftritt, ein Foyer in einem Wohnhaus ist eine "Vorhalle", und es werden "verschwitzte Hände voller Candy Corn" verteilt. Dialoge klingen mitunter so: "Ich hoffe, du hast viel Gewinn davon." Oder auch: "Ich glaube, ich fühle mich versucht." Das ist außerordentlich schade und wohl dem Ehrgeiz des Verlags geschuldet, dem amerikanischen Original zuvorzukommen, das erst Mitte Juli herauskommt.
Colson Whitehead weist in der Danksagung die Quellen aus, auf deren Grundlage er seinen Roman erfunden hat. Die Anstalt, aus der hier die "Nickel Academy" wurde, hieß Dozier School for Boys und lag in Marianna in Florida. Ein Zeitungsreporter, Ben Montgomery, hat die Geschichte in der "Tampa Bay Times" sorgfältig recherchiert und die Studentinnen der University of South Florida haben die Ergebnisse ihrer Grabungen und Forschungen in einem Bericht zusammengefasst. Whitehead weist auch auf die Website der Überlebenden jener Anstalt hin, auf der einzelne Geschichten in ihren eigenen Worten nachzulesen sind: eine professionell gemachte Website für eine wahrhaft grauenvolle Lektüre über die teilweise fast vollkommene Vernichtung von Persönlichkeiten. Es gibt aber auch andere Quellen, die Whitehead nennt, Berichte über Justizskandale und die Korruption in Haftanstalten, die Reden Martin Luther Kings, ein Buch über die Geschichte von Frenchtown.
Gerade einmal drei Jahre liegt die Veröffentlichung von Colson Whiteheads vielfach ausgezeichnetem Roman "Underground Railroad" zurück, in dem er die Geschichte der Sklaverei, historisch unabgeschlossen und wirksam bis heute, anhand der versklavten Cora erzählte, die durch die Jahrhunderte und von Süden nach Norden flieht und wandert, immer neuen Formen von Sklaverei und rassistischer Gewalt ausgesetzt. Mit bewusst gesetzten Anachronismen und futuristischen Elementen hatte Whitehead dort eine eigensinnige Form geschaffen, die sowohl historische Wahrheit als auch aktuelle Gegenwärtigkeit in sich aufnahm und dabei eine Figur gestaltet, die in all ihrer Unwahrscheinlichkeit lebendig vor einem stand.
Sein neues Buch ist auf den ersten Blick einfacher. Mit ihm kommen die wahren Gegebenheiten, auf die es sich bezieht, fiktionalisiert für eine breitere Öffentlichkeit ans Licht wie die Knochen unter der Erde des geheimen Friedhofs. Über weite Strecken realistisch mit den Mitteln des Internatsromans (die Anstalt ist ja durchaus eine Extremform des Internats) erzählt, schildert es ungeheuerliche Zustände von Missbrauch, Folter, Mord und Korruption, deren Wahrheitsgehalt durch das, was tatsächlich unter der Erde lag, bezeugt ist. Und doch hat Whitehead keinen dokumentarischen Bericht geschrieben. Denn im dritten Teil des Romans bricht er aus, aus der Chronologie wie aus dem geographischen Raum. Er führt sein Publikum nach New York, macht Zeitsprünge nach vorn und wieder zurück und landet schließlich im Jahr 2004. In einer mehrseitigen Beschreibung des New-York-City-Marathons entwirft er ein Miniatur- und Traumbild dieser Stadt, nach dem man sofort seinen "Koloss von New York" von vor vielen Jahren wieder aus dem Regal ziehen möchte.
Und kurz vor Schluss der "Nickel Boys" schlägt Whitehead, wie schon in "Underground Railroad", noch ein letztes Mal eine überraschende erzählerische Volte, die dem Ganzen eine unerwartete Dimension hinzufügt - und erweist sich damit als Künstler seinem Material gegenüber als so frei, wie es seine Figuren verdient haben. Ist es ein glückliches Ende? Natürlich nicht, wie könnte das sein bei dieser Geschichte. Aber literarisch beglückend ist es doch, wie Whitehead sich schließlich ganz seiner Vorstellungskraft überlässt.
VERENA LUEKEN
Colson Whitehead: "Die Nickel Boys", übersetzt von Henning Ahrens, Carl Hanser, 224 Seiten
© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt.Es wurden noch keine Bewertungen abgegeben. Schreiben Sie die erste Bewertung zu "The Nickel Boys" und helfen Sie damit anderen bei der Kaufentscheidung.