Inhaltsverzeichnis
Besprechung vom 06.09.2023
Cruise Missiles zu Pferd mit Lanze und Helm
Abaelard und die woken Verfolger: Dan Jones spart in seiner knackigen Nacherzählung der Geschichte des Mittelalters nicht mit Aktualisierungen.
Auf dem Umschlagfoto des Bandes blickt der Autor im eng anliegenden schwarzen T-Shirt mit tätowierten Unterarmen und Fünftagebart selbstbewusst in die Kamera. Ein typischer akademischer Historiker sieht anders aus. Aber Dan Jones ist ja auch kein Universitätsprofessor, er ist ein Medienphänomen. Nach dem Erfolg seines Buchs über das Haus Plantagenet und dessen Kämpfe um den englischen Thron, das es 2012 auf die Bestsellerliste der "New York Times" schaffte, wurde der Journalist und Cambridge-Absolvent Jones zum Anchorman mehrerer Fernsehdokumentationen über die Plantagenets, die Rosenkriege, Heinrich VIII., die Geschichte Londons und die Geheimnisse britischer Burgen. In England kennt ihn jedes geschichtsinteressierte Kind. Zugleich hat Jones aber auch mit dem Bücherschreiben weitergemacht und über die Templer, die Magna Charta, die Weltgeschichte des Imperialismus und - Überraschung - die Rosenkriege publiziert. Das Templerbuch erschien 2019 bei C. H. Beck. Inzwischen hat der renommierte Münchner Verlag den Plantagenet-Band als Paperback nachgezogen und mit dem Mittelalterbuch von 2021 das Triple vollgemacht. Dan Jones ist jetzt ein Beck-Autor.
Das muss kein Schaden sein für ein Verlagshaus, das seit geraumer Zeit versucht, seinen Ruf als Laufsteg der akademischen Granden mit populärwissenschaftlichen Akzenten anzureichern. Kyle Harper ("Fatum") hat sich bei Beck gut neben Alexander Demandt und Mischa Meier behauptet; warum sollte das nicht auch Dan Jones neben Johannes Fried und Michael Borgolte gelingen? Und tatsächlich kann man "Mächte und Throne" in vielerlei Hinsicht empfehlen. Man kann es all jenen empfehlen, die auf den globalen, umfassenden, im doppelten Sinn erschöpfenden Blick, den Borgolte in seinen "Welten des Mittelalters" auf die Zeit zwischen 500 und 1500 nach Christus wirft (F.A.Z. vom 10. Juni 2022), lieber verzichten und sich auf die mediävale Geschichte Europas beschränken wollen. Man kann es auch denjenigen ans Herz legen, die lieber eine knackige Nacherzählung als eine strukturelle Analyse historischer Ereignisse lesen wollen - etwa der Eroberung Roms durch Alarichs Goten (die für Jones zur Vorgeschichte des Mittelalters gehört) und des "Sacco di Roma" gut elfhundert Jahre später, der Kriegertaten des spanischen Cid und des englischen Ritters William Marshal, der Eroberungszüge der Mongolen und der Verheerungen durch die Pest.
Nicht empfehlen kann man das Buch dagegen jenen Lesern, die genau wissen wollen, wie das europäische Mittelalter in einem politisch-theologisch-gesellschaftlichen Sinn eigentlich funktionierte - wie es aus dem ständigen Rückblick auf die Antike heraus zu einer Gegenwelt des römischen Imperiums heranreifte, einem kleinteiligen, vielsprachigen, zentrifugalen Gefüge, das trotz aller Erschütterungen jahrhundertelang im Kern stabil blieb und erst in den Religions- und Nationenkriegen der frühen Neuzeit seinen Abschied nahm. Denn die Geschichte, die Dan Jones in "Mächte und Throne" erzählt, ist weder Struktur- noch Mentalitätsgeschichte und im strengen Sinn auch kein Ereignisbericht. Sie ist eine Schilderung von Abläufen, die an Personen und Institutionen exemplifiziert und durch historische Vergleiche aufgemöbelt werden. Die Auflösung des Karolingerreichs unter den Nachfahren Karls des Großen beispielsweise vergleicht Jones mit dem Zerbrechen der Solidarität unter den europäischen Monarchen beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs; hier wie dort herrschte die Illusion, "dass ihre Blutsverwandtschaft stärker sein könnte als ihre Rivalitäten". Die innere Christianisierung West- und Nordeuropas im Hochmittelalter erklärt er anhand des Aufstiegs von Cluny, dieses "agilen Start-ups", das seine Tochterklöster "wie McDonald's-Filialen" überall in die Landschaft pflanzte. Den gepanzerten Ritter mit Schwert und Lanze schließlich macht Jones zur "mittelalterlichen Entsprechung einer Cruise Missile", ohne zu erwähnen, dass die menschlichen Marschflugkörper bei Crécy und Azincourt in einem Hagel simpler Holzpfeile mit Eisenspitzen, abgefeuert von englischen Langbogen, hilflos zerschellten.
Überhaupt geht unser Autor den Widersprüchen und Zweideutigkeiten des Mittelalters gern aus dem Weg. Wenn es kompliziert wird, wirft er gern verbale Nebelkerzen; der Feudalismus etwa ist für ihn ein "Geflecht ineinandergreifender persönlicher Beziehungen", das "in seiner Gesamtheit ein nicht geplantes, aber ganz eigenes System der Herrschaft" darstelle. Zur Geschäftspartnerschaft von Venezianern und Mongolen bemerkt er: "Gleich und gleich gesellt sich gern." Und die Verfolgungen, denen Freigeister wie Petrus Abaelard und John Wyclif durch die Kirchenmänner ihrer Zeit ausgesetzt waren, fallen für Jones unter den Begriff "Wokeness". Hier wie an anderen Stellen seines Buchs versperrt er durch erzwungene Aktualisierung den Blick auf ein Phänomen, das durch genauere Beschreibung ganz von selbst aktuell würde - denn der Mob, den der heilige Bernhard und die inquisitionsfreudigen Dominikaner um sich versammelten, ist in den sozialen Medien immer noch unterwegs.
Je näher in "Mächte und Throne" die Epochenschwelle des Jahres 1500 heranrückt, desto mehr Künstler und Wissenschaftler betreten die Szene. Petrarca begegnet seiner Laura und erfindet die moderne Liebeslyrik; Jan van Eyck malt den Genter Altar und wird fürstlich entlohnt; Leonardo da Vinci entwirft ein Reiterdenkmal für Ludovico il Moro und stirbt in den Armen des französischen Königs; Albrecht Dürer sieht in Brüssel den Schatz der Inkas, und Francesco Filelfo legt sich mit den Medici an. Es sind historische Sammelbilder, wie man sie einst in Zigarrenkisten aufbewahrte, nur etwas flotter gezeichnet und in die Acrylfarben des digitalen Zeitalters getaucht. Aber die Botschaft ist die gleiche: Männer machen Geschichte, und wir sehen zu. Früher war das die Logik der "Gartenlaube", heute ist es die Logik des Bildschirms.
Am Schluss, nach siebenhundert Seiten und reichlich tausend Jahren, stehen die Barbaren wieder vor Rom, und Dan Jones' Kamera schwenkt über die Stadtmauern. Früher Morgen, dichter Nebel, Sturmleitern, Geschrei - und aus ist es mit "dieser wunderbaren Bewegung", nämlich der Renaissance, obwohl Michelangelo noch Jahre später die Decke der Sixtinischen Kapelle bemalt. Aber unser Conférencier hat genug von der Weltgeschichte, er blickt ein letztes Mal nach Spanien, wo unter der Herrschaft des zweiten Philipp die Stadt Madrid und der Escorial "zum pulsierenden Zentrum europäischer Kultiviertheit" werden, und schaltet dann die Apparatur aus. Das Buch schließt mit einem Zitat von Luther: "Es sei diesmal genug . . . Ein andermal mehr . . . Amen." Ja, es ist wirklich genug. Doch wie heißt es so schön im Fernsehen: Fortsetzung folgt. ANDREAS KILB
Dan Jones: "Mächte und Throne". Eine neue Geschichte des Mittelalters.
Aus dem Englischen von Heike Schlatterer.
Verlag C. H. Beck, München 2023. 793 S., Abb.
© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt.