Daniel Kehlmanns Roman über einen Filmregisseur im Dritten Reich, über Kunst und Macht, Schönheit und Barbarei ist ein Triumph. Lichtspiel zeigt, was Literatur vermag: durch Erfindung die Wahrheit hervortreten zu lassen.
Einer der Größten des Kinos, vielleicht der größte Regisseur seiner Epoche: Zur Machtergreifung dreht G. W. Pabst in Frankreich; vor den Gräueln des neuen Deutschlands flieht er nach Hollywood. Aber unter der blendenden Sonne Kaliforniens sieht der weltberühmte Regisseur mit einem Mal aus wie ein Zwerg. Nicht einmal Greta Garbo, die er unsterblich gemacht hat, kann ihm helfen. Und so findet Pabst sich, fast wie ohne eigenes Zutun, in seiner Heimat Österreich wieder, die nun Ostmark heißt. Die barbarische Natur des Regimes spürt die heimgekehrte Familie mit aller Deutlichkeit. Doch der Propagandaminister in Berlin will das Filmgenie haben, er kennt keinen Widerspruch, und er verspricht viel. Während Pabst noch glaubt, dass er dem Werben widerstehen, dass er sich keiner Diktatur als der der Kunst fügen wird, ist er schon den ersten Schritt in die rettungslose Verstrickung gegangen.
Besprechung vom 07.10.2023
Der Getriebene und sein verlorenes Meisterwerk
Daniel Kehlmanns neuer Roman "Lichtspiel" betrachtet die finsterste Epoche der jüngeren deutschen Geschichte aus dem Blickwinkel eines Mannes, der aus Hollywood in Hitlers Reich zurückkehrte und dort Filme drehte. Es ist der einst berühmte, heute fast vergessene Filmregisseur Georg Wilhelm Pabst.
Georg Wilhelm Pabst ist der vergessene Klassiker des deutschen Kinos. In den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts stand er, nach Filmen wie "Die freudlose Gasse" und "Die Büchse der Pandora", auf Augenhöhe mit Fritz Lang und Friedrich Wilhelm Murnau, und noch in den frühen Dreißigerjahren drehte er zwei der bedeutendsten Werke des frühen Tonfilms: "Kameradschaft" und "Westfront 1918". Pabst hat Greta Garbo für die Leinwand entdeckt und (die heute ebenfalls vergessene) Louise Brooks berühmt gemacht, und er hat seine Karriere über den Abgrund des Zweiten Weltkriegs hinweg fortgesetzt, in Deutschland, Österreich, Frankreich und Italien.
Aber Pabsts Leben und Werk weisen zwei wichtige Schwachstellen auf, die seinem Nachruhm im Weg stehen. Er hat, anders als Murnau und Lang, nie in Hollywood Fuß gefasst; sein einziger Versuch, 1934 mit der Warner-Brothers-Produktion "A Modern Hero", endete in einem Fiasko. Und er hat, nach seiner Rückkehr in sein Heimatland Österreich im Sommer 1939, für das "Dritte Reich" Filme gedreht, insgesamt drei, von denen der letzte, "Der Fall Molander", bis heute verschollen ist. Von diesem Film, der Vorgeschichte seiner Entstehung, den Dreharbeiten im Prag der letzten Kriegsmonate, von Pabsts Versuch, das Filmmaterial zu retten, und von dessen Verschwinden handelt Daniel Kehlmanns neuer Roman.
Oder soll man sagen: Tatsachenroman? Denn "Lichtspiel" ist, was den historischen Hintergrund angeht, solide im Reich des Faktischen verankert. Die Jahreszahlen stimmen, die Namen der Beteiligten auch, und selbst die Lage und Bauweise von Schloss Fünfturm (das hier allerdings Dreiturm heißt) bei Tillmitsch südlich von Graz, in dem Pabst während der Kriegsjahre wohnte, hat Kehlmann penibel recherchiert.
Und dennoch ist "Lichtspiel", nicht anders als Kehlmanns ebenfalls auf Tatsachen gebaute Erfolgsbücher über Alexander von Humboldt und den Dreißigjährigen Krieg, ein Stück reine Fiktion. Das liegt nicht nur daran, dass der Erzähler des Romans all das, was die offizielle Filmgeschichte nur andeutet oder gänzlich verschweigt, in szenische Schilderungen und Dialoge umsetzt, sondern vor allem an einer Handvoll Figuren, die Kehlmann zu dem bekannten Personal von Pabsts Regisseursleben dazuerfunden hat.
Die wichtigste dieser Figuren heißt Franz Wilzek, und mit ihrem Auftritt setzt die Erzählung ein. Irgendwann in den Siebzigerjahren wird Wilzek in die Talkshow des damals bekannten österreichischen Fernsehmoderators Heinz Conrads eingeladen, wo er Auskunft über seine langjährige Zusammenarbeit mit Pabst geben soll. Und obwohl der greise Wilzek, der halb dement in einem Pflegeheim vor sich hin dämmert, ehe er ins ORF-Studio gefahren wird, kaum recht weiß, wie ihm geschieht, begreifen wir doch rasch, dass er in Pabsts Leben und speziell beim "Fall Molander" eine entscheidende Rolle gespielt hat. Denn während er vor den Kameras des Fernsehens laut und energisch bestreitet, dass der Film je gedreht wurde, sieht er vor seinem inneren Auge zugleich sich selbst bei den Dreharbeiten, und als ihn der Redakteur der Sendung, ein Mann namens Rosenzweig, am Studioausgang verabschiedet, sagt er zu Wilzek, sein Vater sei damals dabei gewesen, "bei den Statisten" - und habe überlebt. Wilzek, geschockt, stürzt zur Toilette.
Es ist die Eröffnung eines Spiels, das Daniel Kehlmann so perfekt beherrscht wie kein anderer Erzähler der zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur. Das Spiel besteht darin, verschiedene Perspektiven auf ein Ereignis so zu verbinden, dass daraus ein romanhaftes Ganzes entsteht - kein epischer Strom, eher ein Puzzle aus vielen verschiedenfarbigen und ganz unterschiedlich geformten Teilen, die sich dennoch am Ende zu einem Bild zusammenfügen. In "Lichtspiel" ist das Ereignis die Wandlung des Emigranten Pabst, des Regisseurs der sozialistisch angehauchten "Kameradschaft" und der Verfilmung von Brechts "Dreigroschenoper", zum Filmkünstler von Goebbels' Gnaden. Deshalb wechselt die Perspektive im nächsten Kapitel zu Pabst selbst, der mit zwei Hollywoodproduzenten über ein Filmprojekt verhandelt, das er nicht realisieren darf, und einen Film, den er nicht drehen will, aber drehen muss. Und deshalb springt der Blick des Erzählers zwei Kapitel später zu einem Mann weiter, der Kuno Krämer heißt - er ist die zweite wichtige fiktive Figur des Buches - und der zu einer Party bei dem Hollywoodregisseur Fred Zinnemann geht, um dort mit Pabst ins Gespräch zu kommen und ihn zu überreden, ins Großdeutsche Reich zurückzukehren.
Im weiteren Verlauf rücken sowohl Pabsts Ehefrau Trude als auch sein Sohn Jakob kapitelweise ins Zentrum der Geschichte, dazu die Schauspielerin Louise Brooks, ein Engländer namens Rupert Wooster (hinter dem sich der Populärschriftsteller P. G. Wodehouse verbirgt, der für Goebbels' Propagandaministerium Radiobeiträge verfasste), der bereits erwähnte Krämer und zuletzt Franz Wilzek. An wichtigen Stellen, etwa in Goebbels' Dienstzimmer, schaltet die Erzählung auf eine allwissende Zimmerperspektive um, und immer wieder mal kehrt auch Pabst zurück in den Fokus. Aber nie für lange.
Denn anders als der Held von Hilary Mantels Cromwell-Trilogie ist Kehlmanns Großregisseur nicht einmal zeitweise Herr seines Schicksals. Der Sturm der Geschichte treibt ihn vor sich her, der böse Zufall lässt seine Luftschlösser einstürzen. Seine einzige Chance, dem Unheil zu entrinnen, wäre eine konsequente politische Haltung, aber eben dazu kann sich Pabst nicht durchringen. Er glaubt an seine Kunst. "All das geht vorbei", sagt er zu seiner Frau, "aber die Kunst bleibt." Aber die Kunst, die bleibe, sei blutig und beschmutzt, entgegnet Trude, und Pabst weiß darauf keine Antwort.
Trotzdem fährt er mit seiner Familie nach Schloss Dreiturm bei Tillmitsch, um seine kranke Mutter zu pflegen, und als ihn der Kriegsbeginn in Österreich überrascht, vollzieht er nach einiger Bedenkzeit den Kotau vor Goebbels. Die Szene seiner Unterwerfung hat, wie viele Szenen in diesem Buch, Drehbuchqualitäten, man könnte sie sich auf der Leinwand vorstellen, wenn auch nicht in einem Film von Pabst, bei dem die Opfer der Macht fast immer Frauen sind. Aber in der Kinotauglichkeit liegt auch die Schwäche. Man erfährt in diesem dialogischen Pingpongspiel nichts über Pabsts Beweggründe, sein Inneres bleibt unter der glänzenden Oberfläche verborgen. In einer Passage, in der Pabsts Sohn Jakob - der später als Panzerfahrer in den Krieg zieht - über die richtige Technik beim Zeichnen nachdenkt, erklärt Kehlmann diese Oberflächlichkeit zum ästhetischen Programm.
Der Trick, sagt Jakob, bestehe darin, ein Objekt nicht als solches anzusehen, sondern als "Ansammlung von Flächen, manche dunkel, andere hell, ein Muster aus Schatten und Licht. Wenn man das aufs Blatt setzt, entsteht dort wie durch Zauberei wieder das Ding: ein Krug, ein Blatt, eine Hand, der Kopf eines Hundes." Nur ist eine Menschenseele eben weder ein Krug noch ein Hundekopf. In der magischen Dingwelt von "Lichtspiel" bleibt Pabst die große Leerstelle.
Das gilt auch für das Kapitel, das seinen Sündenfall in den Barrandov-Studios schildert, den Missbrauch von Opfern des Naziregimes für eine "Molander"-Szene. Für die Vermutung, Pabst habe bei den Dreharbeiten in Prag KZ-Häftlinge als Statisten eingesetzt, gibt es keine historischen Belege, doch Kehlmann bereitet die Szene durch einen Set-Besuch des Regisseurs bei Leni Riefenstahl, die für "Tiefland" tatsächlich Sinti aus dem Zwangslager Maxglan verwendete, so geschickt vor, dass sie vollkommen glaubwürdig wirkt. Aber ihr eigentlicher Held ist nicht Pabst, dessen Durchhalteparolen - "dieser ganze Wahnsinn gibt uns die Möglichkeit, einen großen Film zu machen" - immer schmierentheatralischer klingen, sondern Franz Wilzek, durch dessen Augen wir den Sieg des Kunstwillens über die Menschlichkeit betrachten. Und so ist es am Ende auch Wilzek, der die einzige wirklich tragische Entscheidung dieser Geschichte trifft und diesen Sieg wieder rückgängig macht.
Jener Georg Wilhelm Pabst hingegen, der in den Fünfzigerjahren Filme wie "Der letzte Akt" (über Hitlers Ende im Führerbunker) und "Es geschah am 20. Juli" gedreht und auf diese Weise sein Verhältnis zum Kino neu justiert hat, rückt auf den letzten Seiten des Romans in weite Ferne. Was von ihm bleibt, ist eine Spielfigur seines Autors, der in "Lichtspiel" einen Vergessenen zum Leben erweckt, nur um ihn desto gründlicher dem Vergessen zu überantworten. Die Kunst der erzählerischen Flächigkeit, die Daniel Kehlmann in diesem Roman so virtuos betreibt wie nur je, hat ihre Grenzen. In "Tyll" oder "Die Vermessung der Welt" holte sie ihre Figuren wie durch Zauberei aus der Versenkung der Geschichte. Hier bringt sie ihren Helden nicht minder zauberisch zum Verschwinden. Bis man sein Fehlen bemerkt, liest man atemlos Seite um Seite. Erst ganz zum Schluss merkt man, dass diesem Roman der Atem fehlt, der ihn zu einem großen gemacht hätte. ANDREAS KILB
Daniel Kehlmann: "Lichtspiel". Roman.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2023. 476 S., geb.
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