Inhaltsverzeichnis
Besprechung vom 13.05.2023
Lyrisch betreutes Leben
Klassiker ganz frisch: Dirk von Petersdorff hat den "Ewigen Brunnen" deutschsprachiger Gedichte von 1955 gründlich vertieft und neu zum Sprudeln gebracht
Eine Sammlung deutscher Gedichte aus zwölf Jahrhunderten mit dem Kinderreim "Heile, heile Segen" zu eröffnen, ist ein starker erster Aufschlag. Denn mit nur vier Zeilen, die schon der Volkslieder-Simrock verzeichnete, wird bewiesen, was Lyrik alles kann: trösten, verzaubern, melodisch ergreifen, vom Schmerz ablenken, psychosomatisch heilen. Der Dichter und Literaturwissenschaftler Dirk von Petersdorff verneigt sich mit diesem Beginn zugleich vor Ludwig Reiners. Der hatte 1955 unter dem Titel "Der ewige Brunnen" ein "Volksbuch deutscher Dichtung" begründet, das bis zu einer ersten Revision durch Albert von Schirnding 2005 einen lyrischen Hausschatz für viele darstellte. Reiners versuchte mit seinen knapp tausend Seiten mehr als ein Buch an die Hand zu geben, er wollte, dass die Sammlung "ein Teil des gelebten Lebens" werde. Gewidmet hatte er sie seiner "neunzigjährigen Mutter, als Dank für die vielen Gedichte, die sie mich von Kind an gelehrt hat". Mit Sicherheit war da "Heile, heile Segen" dabei.
Reiners griff eine Idee von Goethe auf. Der wurde 1808 von dem Jenaer Philosophen Friedrich Immanuel Niethammer zu einer großen Textsammlung aufgefordert. Aus Karlsbad ließ der Geheimrat wissen, dass er einen solchen Plan schon lange verfolge. Er bitte diesen aber geheim zu halten, damit er nicht "durch geschäftige Hände auf eine ungeschickte Weise zu Tag gefördert" werde. Außerdem dachte Goethe gleich selbst geschäftstüchtig an ein Generalprivileg, um unerlaubte Nachdrucke zu verhindern. Doch aus all dem wurde nichts, lediglich "Acta die Verfassung eines lyrischen Volcksbuches betr." sind als Faszikel erhalten. Was zählt, ist aber der Einfall, den Reiners dann nach lebensweltlichen Rubriken wie "Kindheit, Alter und Tod", "Liebe, Ehe und Glaube", "Natur, Lebenskunst und Kulinarisches", "Schicksal, Schwermut und Heiterkeit" mit Gedichten aus allen Epochen füllte. Diese Struktur übernimmt Petersdorff weitgehend, überschreibt die Kapitel aber mit etwas moderneren Begriffen.
Da ist etwa das zu bedrückender Aktualität gelangte Thema "Krieg, Flucht, Vernichtung". Auf Gryphius' bittere "Tränen des Vaterlands Anno 1636" antwortet Johannes R. Becher mit dem gleichen Titel, "Anno 1937". Und Theodor Körners Schlacht-Hurra in den Befreiungskriegen tritt Chamissos "Invalid im Irrenhaus" entgegen, der mit gespaltenem Haupt all die Freiheitsrufe als böse Illusion durchschaut. Trakls "Grodek" und Celans "Todesfuge" fehlen natürlich nicht, der Genozid in Jugoslawien oder die Fluchtbewegungen seit 2015 bleiben aber ohne poetische Antwort.
Aktueller geht es in anderen Rubriken zu, etwa zur Jugend, die Petersdorff mit einer eigenen längeren Anrede "An eine Dreizehnjährige" eröffnet. Der sich stets jung gebende Udo Lindenberg kommt gleich hinzu, rockt "Gegen die Strömung" und die "Spießer". Im nächsten Abschnitt über die Liebe unterstützt ihn Sven Regner, wie überhaupt mit dem Nobelpreis an Bob Dylan der Mut gestiegen ist, Songtexte als Lyrik aufzuwerten. Aus dem neuen "Brunnen" tönen auch Herbert Grönemeyer, die Comedian Harmonists oder die Bands Ideal und Tocotronic. Überhaupt ist die Sammlung viel jünger geworden, zwei Dutzend aller Beitragenden wurde erst nach Reiners Fassung von 1955 geboren.
Das Bekenntnis zur Beliebtheit und Popularität teilt Petersdorff mit seinen Vorgängern, nicht zuletzt - so das Vorwort -, um "in jüngeren Generationen" für das "Verständnis lyrischer Formen" zu werben. "Zauberworte" wie in Hofmannsthals "Weltgeheimnis", die schon der "tiefe Brunnen" dunkel verheißt und über die man länger nachdenken muss, schließt das nicht aus. Christian Metz hat mit seinem Buch "Poetisch Denken" (2018) die These entwickelt, dass Gedichte der Gegenwart nach der Jahrtausendwende ein völlig neues Niveau erreicht haben. Die Erlebnislyrik haben Monika Rinck, Jan Wagner, Ann Cotten, Steffen Popp und andere weit hinter sich gelassen, um zu einer neuen Denkraum- und Unschärfepoesie fortzuschreiten. Auch sie sind im neuen "Brunnen" fast alle vertreten. Hinter dem lustigen Robert Gernhardt mit elf Texten stehen sie aber weit zurück.
Reflexionslyrik in einem metapoetischen Sinne findet sich in der gegenüber Reiners' völlig neuen Rubrik "Über die Dichter". Da kann es einfach zugehen wie mit Morgensterns ästhetischem Wiesel, das nur um des Reimes willen "saß auf einem Kiesel / inmitten Bachgeriesel". Oder in Horst Bieneks Figurengedicht "Wörter" in Form eines sich öffnenden Wörter-Fallschirms, denn "wer euch richtig / öffnet / schwebt". Schiller fasst in einem Distichon über "Sprache" deren Verhältnis zum Denken schon raffinierter: "Spricht die Seele, so spricht ach! schon die Seele nicht mehr." Mehr als gerecht ist, dass in diesem Kapitel zwei Autorinnen des Barocks, Sibylla Schwarz und Susanna Elisabeth Zeidler, das letzte Wort haben, das sie den Männern entgegenhalten: "Wenn man uns so wie euch, die Künste gösse ein, / So wollten wir euch auch hierinnen gleicher sein."
Walther von der Vogelweides "Ich saz ûf eime steine", das bei Reiners erstaunlicherweise fehlte, hätte man der literarischen Selbstbesinnung zuordnen können. Petersdorff eröffnet damit lieber eine weitere neue Abteilung zur Politik. Zu Recht, denn Walter erkennt in diesen vielleicht bekanntesten Versen des Mittelalters, warum Besitz, Ehre und Gnade nicht in ein Gefäß passen wollen, schon gar nicht in ein Herz. Denn "untriuwe ist in der sâze, / gewalt vert ûf der strâze, / fride unde reht sint sêre wunt", in der Übersetzung von Peter Wapnewski: "Verrat lauert im Hinterhalt, / Gewalttat zieht auf der Straße, / Friede und Recht sind todwund". In diesem alten Sinne von "prudentia politica" ist noch in anderen Gedichten die Rede, dann aber auch von staatlichen Mächten. Etwa als der Paris-Exilant Heine im "Wintermärchen" die deutsche Grenze erreicht, wenn Mascha Kaléko diesem "Refugee" im "Emigranten-Monolog" antwortet oder Brecht dieses letzte Wort ersetzen will durch Fliehende, Verbannte, Vertriebene, weil ein solcher Schritt eben nie "nach freiem Entschluß" erfolgt. Schließlich ist Sprache auch politisch, wie Ernst Jandl in "Lichtung" deutlich belegt: "manche meinen / lechts und rinks / kann man nicht / velwechsern. / werch ein illtum!"
Dank dem Herausgeber für diese klug zusammengestellte Sammlung, die einen breiten historischen und thematischen Querschnitt bietet. Und dass im Abschnitt "Stadt, Land, Fluss" neben etlichen Berlin-Gedichten auch Friedrich Stoltzes "Mei Frankfort" vorkommt, mag manche freuen: "Es ist kää Stadt uff der weite Welt, / die so mer wie mei Frankfort gefällt, / un es will mer net in mei Kopp enei: / Wie kann nor e Mensch net von Frankfort sei!" ALEXANDER KOSENINA
"Der ewige Brunnen". Deutsche Gedichte aus zwölf Jahrhunderten.
Gesammelt und hrsg. von Dirk von Petersdorff. Verlag C. H. Beck, München 2023. 1167 S., geb.
© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt.